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es im Munde der Fordernden etwas ganz anderes, heißt: unser Volk soll sich Mann für Mann in Parteien organisieren und gliedern lassen. Das kommt nirgends deutlicher zutage als in dem Verlangen nach Proportionalwahlen, namentlich in der Form der proportionalen Listenwahl, wo die Stimme des einzelnen wertlos oder geradezu ungültig wird, wenn sie nicht in einer anerkannten Parteiliste auf- und untergeht: ich darf nicht wählen, wen ich will, sondern ich muß wählen, wen die Partei oder ein Bruchteil der Partei, eine Delegiertenversammlung oder ein Parteiausschuß mir vorschreibt.

Das Parlament nur selten Ausdruck der öffentlichen Meinung.

Aber so oder so, jedenfalls ist das Parlament nur selten der Ausdruck einer einheitlichen öffentlichen Meinung, für gewöhnlich vielmehr der Kampfplatz, der sich streitenden politischen Parteien und Parteimeinungen. Das ist, wenn die Einheitlichkeit fehlt, freilich notwendig; denn keine Partei ist das Ganze und hat allein recht und vollkommen recht, sondern jede ist einseitig und hat auch unrecht. Darum müssen die Parteien oder ihre Stimmführer in Gründen und Gegengründen zusammen das Allseitige und das Ganze zur Aussprache bringen und in der Debatte herausarbeiten, müssen sich gegenseitig ergänzen und korrigieren und schließlich in Kompromißbeschlüssen die mittlere Linie suchen, damit nicht die Extreme siegen und das Vaterland in Stücke geht. Oder vielmehr − nicht um ein Siegen oder Unterliegen sollte es sich bei diesen parlamentarischen Redeschlachten handeln, sondern um das Herausstellen aller Seiten einer Aufgabe oder eines Problems unseres öffentlichen Lebens und um ein gegenseitiges Überzeugen. So nur wird das streitende Parlament zum Ausdruck der Allseitigkeit und des Ganzen. Das Verschwinden einer Partei im Parlament, während sie noch Anhänger hat im Volk, ist daher stets ein Unglück, und von diesem Gesichtspunkt aus sogar das Proportionalsystem zu ertragen. Dabei verhält sich das Einheitliche und das Ganze zum Zerklüfteten und Zerklüftenden wie Ebbe und Flut: es gibt Zeiten, in denen dieses überwiegt und jenes zurücktritt und umgekehrt. Je näher wir einer großen Zeit stehen, je deutlicher uns die Gefahren zum Bewußtsein kommen, die uns von außen her drohen, desto mehr pflegt das Parlament diese seine Aufgabe zu erfassen, Träger eines einheitlichen und eines allgemeinen Willens über die Einzelinteressen hinweg und dadurch Bildungsmittel für die Staatsinteressen überhaupt zu sein. Deswegen war der Reichstag nie größer und leistungsfähiger als in den siebziger Jahren, und war sein Verhalten bei der Annahme der großen Heeresvorlage von 1913 so erfreulich würdig und erhebend.

Der Reichstag.

So pulsiert das öffentliche Leben wirklich im Reichstag als dem Organ der öffentlichen Meinung von den politischen Dingen und der verschiedenen Parteirichtungen im deutschen Volk. Aber vielleicht fehlt es ihm heute allzusehr an überragenden Führern, und vielleicht fällt eben darum der Akzent doch zu sehr auf das parteipolitisch Trennende. Und auf der andern Seite erfährt der Außenstehende zu wenig von der tüchtigen und soliden Arbeit, die in den Kommissionen geleistet wird, in denen offenbar mehr und mehr das Wertvollste seiner Leistung besteht. Hegel sagt, die Öffentlichkeit

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1661. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/532&oldid=- (Version vom 4.8.2020)