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Palette, zu einer Tonmalerei, die nur Stimmungen, Seelenschwingungen und so gut wie keine irgendwie bestimmter umrissene Form kannte, durch diese kam eine tonige, stimmungsvolle und doch farbige Behandlung der natürlichen Umwelt zur Geltung, die einer realistischen Auffassung nicht entgegenstand. So war die Künstlerschaft auf dem Wege zu einer stimmungsvollen, farbenfreudigen Gegenwartskunst. Das Verhalten des kunstsinnigen Laien bot diesen Malern eine Stütze. Es wurde immer klarer, daß die unstreitig vorhandene verstehende Anteilnahme des großen Publikums an den neuzeitlichen Schöpfungen der Landschaft- und Genremalerei, an den Stilleben und Porträten erlahmte, je mehr die neue Technik ausgebildet, festgefügtes Eigentum der Künstler geworden und nun der tote Punkt erreicht war. Das Gesetz der Ermüdung erzwang sich Geltung. Man war der Vereinfachungen, die nicht gar zu selten in Formzerfetzungen steckengeblieben waren, der prismatisch zerlegten, farbigen Lichtwerte, die sich oft in keiner Entfernung im Auge mischen wollten, allmählich überdrüssig geworden; man wünschte wieder die bestimmt ausgezeichnete Form zu sehen, und die geistigen, die Seelenmächte interpretiert zu erhalten. Wer die Formsprache beherrscht, kann über den Stoff nachdenken. Die Künstler begannen, überreich an den vor der Natur gewonnenen Licht-, Farb- und Formwerten, einzusehen, daß deren freie geistige Verarbeitung nicht nur möglich, sondern wertvoll sei, und daß bei dem künstlerischen Schaffen ein feinfühliges Sehen, ein treues Gedächtnis und Erfahrung Hand in Hand zu gehen habe. Demzufolge bemerken wir, zunächst in der Landschaft seit ca. 1895, eine Komposition in dem Sinne, daß die unmittelbar gewonnenen Natureindrücke durch ein starkes rhythmisches Gefühl für Stoff und Farbenmassen stilisiert werden, und daß die dichterische Neigung, sich in das eigene Leben wieder zu vertiefen, von neuem eindringt. Man sucht seit etwa diesen Jahren nach dem Gleichgewicht eines formalen Aufbaues der Bilder, jedoch ohne Rücksichtnahme auf überlieferten Dogmatismus. Die immanente Massenproportion beginnt in der räumlichen Anschauung zu herrschen, und damit ein wesentlicher Faktor aller künstlerischen Arbeit sich wieder einzuschieben, die Phantasie, die gestaltende Vorstellungskraft. Es dominiert nicht mehr die oft ganz unbewußte Bevorzugung überraschender Lichtreflexe, sondern das Streben nach einer ausgeglichenen farbigen Harmonie, nach der Kultur einer lichtstarken satten Farbe. Gleichzeitig gewinnt die Ateliermalerei wieder an Kraft. Die Maler fürchten sich auch nicht mehr vor landschaftlichen Motiven, welche die Phantasie des Beschauers anregen. Dies äußert sich nun allerdings nicht wieder in alter Weise durch topographische Ausstattung der gewählten Gegend, sondern dadurch, daß die Künstler in Übereinstimmung mit den Triebkräften unserer Gegenwart die Orte aufsuchen, wo das schaffende Leben pulst, wie etwa die Seehäfen oder die Zeugnisse des Lebenswerkes unseres Kaisers, die machtvollen Kriegsschiffe in Sonnen- und Sturmwetter, Segel- und Ruderregatten, oder die Straße der hastenden Großstadt im hellen Lichte der elektrischen Lampen, die Bahnhöfe und ähnliches mehr. Man strebte in weiterer Folge von der Internationalität, welche der Impressionismus in allen seinen Spielarten der Malerei verliehen hatte, zu einem nationalen Charakter zurück. Diese Umwertung der Ergebnisse der Freilichtmalerei wurde naturgemäß zunächst mit einer Überbetonung bezahlt, aus der die Malerei sich erst allmählich wieder

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1584. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/455&oldid=- (Version vom 28.9.2022)