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Hals.

Die Chirurgie des Halses, früher wegen der anatomischen Schwierigkeiten ein Gebiet, auf dem der Operateur seine besondere Kunst zeigen konnte, ist heute jedem Chirurgen geläufig. Bei allen Eingriffen am Halse legen wir heute, weil uns die damit verbundene größere technische Schwierigkeit nicht mehr schreckt, großes Gewicht auf die möglichste Vermeidung der Entstellung durch die Narbe. Wir gehen darin, wenn besondere Umstände es gebieten, nach dem Vorschlage von Dollinger so weit, daß wir den Schnitt gar nicht am Halse, sondern an der Haargrenze anbringen, so daß die Narbe später überhaupt nicht sichtbar ist; den weiten Weg vom Hautschnitte zum Krankheitsherde bahnen wir uns dann unter Vermeidung der wichtigen Gefäß- und Nervenstämme mit Hilfe künstlicher Beleuchtung.

Besonders hervorgehoben sei unter den Operationen am Halse wegen ihrer glänzenden Resultate die durch Kocher, v. Bruns, Sozin, v. Mikulicz und andere geförderte Operation des Kropfes. Während man früher den Kropf, die Struma, nur für ein entstellendes Leiden gehalten hat, wissen wir heute, daß durch den Druck der vergrößerten Schilddrüse auf die lebenswichtigen Organe des Halses und der oberen Brustöffnung sehr schwere, ja tödliche Störungen hervorgerufen werden können. Da nur bestimmte, leichte Formen des Kropfes auf eine interne Behandlung reagieren, gewisse Medikamente, wie Jod oder Schilddrüsentabletten, auch nur mit größter Vorsicht angewandt werden dürfen, so hat die operative Behandlung der Struma außerordentlich an Popularität gewonnen, zumal die Sterblichkeit der früher für sehr gefährlich und schwierig gehaltenen Operation bis auf Bruchteile von Prozenten heruntergegangen ist. Der große hier erzielte Fortschritt ist, abgesehen von der verfeinerten Asepsis, auf die besonders durch Kocher verbesserte Technik der Operation und auf die prinzipielle Anwendung der Lokalanästhesie zurückzuführen.

Die Strumaoperation hat dadurch noch besondere Bedeutung gewonnen, daß Moebius als Ursache der gefürchteten Basedowschen Krankheit eine übermäßige Tätigkeit der Schilddrüse festgestellt hat. Die Überlegung, daß dieser Schädlichkeit durch eine operative Verkleinerung der Schilddrüse abgeholfen werden könnte, hat sich als außerordentlich fruchtbar erwiesen. Wird die Operation frühzeitig ausgeführt, ehe das gefährliche Leiden zu irreparablen Störungen namentlich des Herzens geführt hat, so sind die Resultate so erfreulich, daß der Chirurg auf wenigen Gebieten so viel Dank erntet, wie auf dem der Operation bei Basedowscher Krankheit.

Den entgegengesetzten Zustand, die verminderte Tätigkeit der Schilddrüse, die sich in krassester Form als Kretinismus äußert, haben wir dagegen bisher nur mit sehr geringem Erfolge zu bekämpfen vermocht. Es gelingt zwar durch Zufuhr von Schilddrüsensubstanz, am besten vom Munde aus in Gestalt der bekannten Schilddrüsentabletten, eine gewisse Besserung der körperlichen und geistigen Funktionen bei kretinistischen Kindern herbeizuführen, noch keines der bedauernswerten Geschöpfe aber ist durch diese Behandlung zu einem brauchbaren Mitgliede der menschlichen Gesellschaft geworden. Auch die Versuche, auf operativem Wege die fehlende oder mangelhaft entwickelte Schilddrüse zu ersetzen, sind als gescheitert anzusehen, wie bei Besprechung der Lehre von der Transplantation noch näher erörtert werden soll.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1386. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/257&oldid=- (Version vom 20.8.2021)