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Die Entwicklung der Chirurgie
Von Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Hermann Küttner, ordentl. Professor der Chirurgie und Direktor der Kgl. chirurgischen Universitätsklinik zu Breslau


Große Fortschritte der Chirurgie.

So bedeutsam die Fortschritte der gesamten Medizin im letzten Vierteljahrhundert gewesen sind, nur wenigen Zweigen ärztlicher Wissenschaft ist eine Entwicklung beschieden gewesen, wie die Chirurgie sie in diesen Dezennien erlebt hat. Zwar waren schon vor Beginn des letzten Vierteljahrhunderts die Zeiten längst vorüber, in denen die Chirurgie, dem Handwerke gleich geachtet, als Handlangerin der theoretischen Medizin galt, die großen Chirurgen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten ihr längst die gebührende Stellung verschafft. Aber noch immer blieb die Operation das ultimum refugium, das erst in verzweifelter Situation seine Berechtigung fand, sie blieb es, obwohl die Entdeckungen der Narkose, der antiseptischen Wundbehandlung, der künstlichen Blutleere bereits gemacht waren.

Heute ist die Sachlage eine durchaus andere. Die Chirurgie hat ihre Schrecken verloren, ihre außerordentlichen Erfolge haben sie volkstümlich gemacht, denn der erfreuliche dauernde Rückgang der Volkssterblichkeit ist zu einem guten Teile auf ihre Errungenschaften zurückzuführen. Nicht mehr den äußersten Notbehelf stellt heute der operative Eingriff dar, die Frühoperation hat ihre Berechtigung gewonnen, die dem Leiden die Wurzel abschneidet, ehe es zu spät ist, und weit häufiger als unmittelbar lebensrettende Operationen werden vorbeugende, kosmetische und andere nicht nur von der Not diktierte Eingriffe ausgeführt. Dieser Aufschwung, der die ganze segensreiche Kraft der Chirurgie erst recht ins helle Licht gesetzt hat, fällt in die letzten 25 Jahre, und Deutschland hat in diesem Zeitraum die führende Rolle in der Chirurgie erlangt.

Bedeutung der deutschen Forschung für die moderne Chirurgie.

Daß gerade Deutschland berufen war, diese Führerschaft zu übernehmen, darf nicht als reiner Zufall angesehen werden, denn die mächtig aufblühende Chirurgie hat nicht nur in deutschen Landen, sondern in aller Welt Scharen talentvoller Menschen angezogen und eine besondere Steigerung der Leistungen des einzelnen bewirkt. Die Gründlichkeit deutscher Forschung ist es gewesen, die ihr auch hier die leitende Stellung verschafft hat, denn das Fundament der Chirurgie ist nicht die Technik, wie heute noch vielfach angenommen wird, sondern das naturwissenschaftliche Denken und Ergründen. Gewiß stellt die moderne Chirurgie außerordentliche Anforderungen an die Handfertigkeit des Operateurs,

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1366. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/237&oldid=- (Version vom 20.8.2021)