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Natur- und Geisteswissenschaften.

Der Zug der Zeit hat sich im allgemeinen den Naturwissenschaften und der Technik zugewendet. Wer wollte angesichts der gewaltigen Beherrschung der Naturkräfte, die die Gegenwart zeigt, angesichts der alles Hoffen überflügelnden Errungenschaften und Wohltaten, die ihren Lichtschein über alle Länder und Völker ausgießen, nicht freudig und willig den neuen Geist anerkennen! Physik und Chemie, Botanik und Biologie, Landwirtschaft und Medizin haben in gleicher Weise Anteil und dürfen sich rühmen, das Weltbild wie das Leben des einzelnen neugestaltet zu haben. Wenn die Jugend sich diesem Zauber willig hingibt, so ist das die selbstverständliche Folge dieser sich täglich offenbarenden und sich nützlich erweisenden Macht. Scheint es doch, soweit man ohne statistische Grundlagen urteilen kann, daß Naturwissenschaften und Medizin selbst hinsichtlich der akademischen Lehrkräfte über ein größeres Angebot und dementsprechend über eine größere Auswahl verfügen, als alle übrigen Wissenschaften, die in manchen Fällen nicht geringe Schwierigkeiten finden, geeignete Männer für die Lehrstühle zu berufen. Die anscheinenden Schwierigkeiten, den Lehrstuhl eines jüngst verstorbenen großen Literarhistorikers neu zu besetzen, bilden nur eins der Beispiele.

Wie könnte es anders sein, als daß dieses Verhältnis auch im Unterrichtsetat zum Ausdruck kommt und der goldene Strom sich dorthin befruchtend lenkt, wo der Geist der Zeit ihm das Bett gegraben hat. Es würde genauer Untersuchungen bedürfen, um festzustellen, wie weit Entwicklung und Herrschaft von Medizin und Naturwissenschaften auch in der Neugründung von Professuren zum Ausdruck gekommen ist. Immerhin kann man darauf verweisen, daß in der rechtswissenschaftlichen Fakultät die Ordinariate seit 1888 von 68 auf nur 78 gestiegen sind[1]; ihr Bestand also, trotz des sich beständig erweiternden Stoffes und der sich verändernden Unterrichtsmethode, zwar nicht nach dem Prozentsatz, aber doch der Wirkung nach fast stationär geblieben ist und nur in der Verdreifachung der Extraordinate eine Ergänzung gefunden hat. Am besten aber vermag die Verschiedenheit, mit der die einzelnen akademischen Institute ausgestattet sind, die Vorherrschaft jener Disziplinen im Kranze ihrer Schwestern zu beleuchten. So verfügt das Chemische Institut in Halle über einen Staatszuschuß von 27 757 M., das Seminar für Jurisprudenz über 600, das Seminar für deutsche Philologie über 300 M. In Bonn steht das Chemische Institut mit 24 629 M. gegenüber dem Juristischen Seminar mit 750 und dem Germanistischen mit 300 M. Selbstverständlich bedingen die Naturwissenschaften ihrem ganzen Wesen nach einen größeren Aufwand sowohl hinsichtlich der Arbeitsmittel als der Arbeitsstätten; manches dringende Bedürfnis bleibt selbst hier noch unerfüllt, aber doch wird eine Darstellung unserer Universitäten nicht an den Wünschen nach Vermehrung der staatlichen Hilfe vorübergehen dürfen, die auf seiten der Geisteswissenschaften hervortreten und im bescheidenen Maße der Erfüllung harren. Von großem allgemeinem Wert verspricht die Neuerung zu werden, die jetzt zuerst die juristische Fakultät dadurch erfahren hat, daß auch bei ihr nach dem bei Naturwissenschaften und Medizin längst bewährten Prinzip, eigene Assistenten zur besseren Ausbildung der Studenten angestellt sind.


  1. Nach W. Geh. Oberregierungsrat Prof. Dr. Elster in „Soziale Kultur und Volkswohlfahrt“ S. 53.
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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1056. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/619&oldid=- (Version vom 6.1.2019)