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Man setzte sich in diesen Kreisen doch allzu leicht über die veränderte kulturelle und geistige Lage hinweg, ignorierte die neuen Ideen und Probleme in Praxis und Wissenschaft, welche das 18. Jahrhundert dem 19. überliefert, deren tiefste Interpreten unsere Klassiker und idealistischen Philosophen, Männer wie Kant, Schleiermacher, Hegel u. a. waren, und knüpfte viel zu unmittelbar wieder an das Kirchentum des 17. Jahrhunderts an. Das zeigt sich vor allem an der Stellung zu den Bekenntnissen und der altorthodoxen Theologie. Hier kam man gerade an den entscheidenden Punkten im wesentlichen nicht über eine Repristination des Alten hinaus.

Die Folgen.

Darum vermochte die kirchliche Restauration trotz aller ihrer äußeren und inneren Mittel den geistigen, vor allem den wissenschaftlichen Ansprüchen und Bedürfnissen des Jahrhunderts nicht zu genügen. Sie empfand die sich immer mehr häufenden und komplizierenden intellektuellen und überhaupt kulturellen Lebensfragen der Zeit überhaupt nicht, oder beurteilte sie als „aus dem Geiste des Unglaubens“ entsprungen. Man glaubte tatsächlich, die grundlegend neuen Aufgaben, die Kant der Wissenschaft, Schleiermacher der Theologie und Hegel dem Kulturleben überhaupt gestellt hatten, für die Kirche und ihr geistiges Leben beiseite schieben zu dürfen. Man blieb bei dem alten Intellektualismus, der alten Apologetik, dem alten Supranaturalismus, der alten Geschichtsbetrachtung mit ihrer Verbalinspirationstheorie, und man verwies die historische Kritik von dem Heiligtum der Theologie. Man war mit einem Worte wissenschaftlich, theologisch nicht auf der Höhe der Zeit.

Fehler der Orthodoxie.

Der Geist, der dem widersprach, war keineswegs ohne weiteres der Geist des Unglaubens, sondern zunächst der unterdrückte Geist der Wissenschaft. Es ist von jeher einer der verhängnisvollsten Fehler der Orthodoxie gewesen, daß sie zwischen diesem und jenem nicht zu unterscheiden vermochte. Wir sind es der Gerechtigkeit schuldig, zu bekennen, daß der Geist, dem in mehr oder weniger direktem Gegensatz gegen die Orthodoxie die sogenannte liberale Theologie in ihren verschiedenen Richtungen entstammte, nicht an sich ein antichristlicher und antikirchlicher war, sondern der Geist wissenschaftlicher Sachlichkeit und Wahrhaftigkeit. Den Theologen des 19. Jahrhunderts soll man erst noch suchen, dem man vorwerfen könnte, er sei darauf ausgegangen, das Christentum zu zerstören. Der einzige David Fr. Strauß war, als er sich dahin verirrte, kein Theologe mehr.

Die liberale Theologie. Grundgedanke.

Der Liberalismus wollte ein wissenschaftlich geläutertes und kritisch gereinigtes Christentum, aber er wollte eben doch Christentum; und er wollte eine mit der Kultur der Zeit und ihren Lebenswerten in Einklang gebrachte Kirche, aber eben doch eine Kirche. Er wollte auf Grund der neuen Bildungselemente und Methoden ein neues Gleichgewichtsverhältnis schaffen zwischen Wissenschaft und Kirche. Er suchte

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 985. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/548&oldid=- (Version vom 20.8.2021)