Seite:Deutschland unter Kaiser Wilhelm II Band 2.pdf/546

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

und Friedensliebe der Pastoren in der Gemeinde untergraben wird. Immer mehr differenziert sich dieser Streit. Neue Parteien, Richtungen, Kampforganisationen bilden sich und verwickeln die Lage.

Streit um die Heilstatsachen; verschiedene Parteien in der Kirche.

Um die „Heilstatsachen“ geht der Kampf und um ihre Deutung, um die „jungfräuliche Geburt, Auferweckung und Himmelfahrt Christi, Auferstehung des Fleisches“, im Grunde um die „Gottheit Jesu Christi“, um die Auffassung der „übernatürlichen Offenbarung“ und der „Wunder“. Aber er bleibt nicht theologisch, er wird praktisch. Man kämpft um die Grenzen der Lehrfreiheit, den Sinn der Bekenntnisverpflichtung, die Gleichberechtigung der Richtungen. Überall führt der kirchliche Kampf zu Kraftproben. Majorisierungen werden unvermeidlich.

Die Abweichungen der Einzelnen von der Theologie der Glaubensbekenntnisse sind verschiedensten Grades. Es ist unmöglich, scharfe Grenzlinien zwischen den einzelnen Richtungen zu ziehen. Sogar zwischen den „Positiven“ und „Liberalen“ überhaupt sind die Grenzen längst fließend. Zudem läßt sich nicht leugnen, daß neuerdings auf der äußersten Linken ein Radikalismus hervorgetreten ist, der der monistischen Weltanschauung näher steht als der christlichen. Immer zahlreicher werden die Theologen, die auf dieser Grenzlinie balancieren. Sie werden zu einer Gefahr für den Bestand der Landeskirche. Denn ihnen gegenüber wird die Frage immer unvermeidlicher, ob das, was sie nicht bloß vertreten, sondern als bewußte Reformer, wenn nicht gar Reformatoren, mit Leidenschaft propagieren, überhaupt noch Christentum ist.

Die Tatsache, die sich bereits vollzogen hat, ist diese: Im letzten Menschenalter hat sich die Glaubens- und Erkenntniseinheit, auf der die Bekenntniskirchen in ihrer historischen Gestalt beruhten, völlig aufgelöst. In der dadurch verursachten inneren geistigen Zerrissenheit und Schwäche liegt die Erfolglosigkeit des Kampfes der Kirche gegen die allgemeine Unkirchlichkeit begründet.

Auflösung der Lehreinheit.

Die Auflösung der Glaubens-, Erkenntnis- und Lehreinheit in der evangelischen Kirche, also die vollzogene Aufhebung der Bekenntniskirche im altprotestantischen Sinne ist eine Tatsache von ungeheurer Bedeutung und Tragweite. In Kombination mit der anderen Tatsache der allgemeinen Entkirchlichung, bildet sie geradezu das Problem der evangelischen Kirchenfrage.

Ehe wir darauf eingehen, ist die Frage zu beantworten, wie es zu dieser innerkirchlichen Katastrophe gekommen ist.

Diese Frage ist eine wesentlich theologische.

Die Ursache der Krisis in der theologischen Entwicklung zu suchen.

Denn die Auflösung der Bekenntniseinheit in der evangelischen Kirche ist in allererster Linie eine Folgeerscheinung der Entwicklung der wissenschaftlichen Theologie im 19. Jahrhundert. In den theologischen

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 983. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/546&oldid=- (Version vom 11.12.2022)