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Werbekraft des Versicherungsgedankens.

Der Versicherungsgedanke hat immer mehr im Volke Boden gewonnen. Die Versicherten machen in weiterm Maße von der freiwilligen Weiter- und Höherversicherung Gebrauch. So kommen die Wohltaten der Versicherung auch dem Mittelstande in steigendem Maße zugute. Die freien Zuschußkassen wachsen an Mitgliederzahl und Leistungen. Erstere stieg z. B. von 1907 bis 1911 von 396 602 auf 589 348, die Einnahmen von 10,3 Mill. Mark auf 15,6 Mill. Mark. Und wie die gesetzliche Versicherung erziehlich gewirkt hat, wird am besten durch die beispiellose Verbreitung der Volksversicherung erwiesen. Die Zahl der Versicherungsscheine betrug 1888: 308 415, 1911 dagegen 8 431 950, während die Versicherungssumme dieser Zeit sogar von 62,5 Mill. auf 1749 Mill. stieg.

Gewerkschaftliche Organisationen.

Das sind Beträge, die groschenweise zusammengebracht, vom Munde abgespart werden müssen. Wieviel Selbstbeherrschung und Opfersinn bekunden sie nicht! Und wie die wirtschaftliche Kraft und Energie in unserem Arbeiterstand gewachsen ist, beweist vor allem die Entwickelung unserer Gewerkschaftsorganisationen.

Die freien Gewerkschaften zählten 1912 2 530 390 Mitglieder und hatten eine Jahreseinnahme von 80 Mill. Mark, einen Vermögensstand von 80 Mill. Mark. Die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine hatten bei einem Mitgliederbestande von 109 225 eine Gesamtjahreseinnahme von 2,7 Mill. Mark und ein Gesamtvermögen von 4,5 Mill. Mark. Den christlichen Gewerkschaften gehörten 344 687 Mitglieder an; ihre Einnahmen stellten sich auf 6,6 Mill. Mark, ihr Kassenbestand auf 8,6 Mill. Mark. Außerdem gab es noch 33 „unabhängige Vereine“, die 815 416 Mitglieder, 1,8 Mill. Mark Jahreseinnahme und 2,3 Mill. Mark Vermögen aufwiesen.

Dank dieser starken gewerkschaftlichen Organisationen hat sich unser Arbeiterstand auch die tatsächliche Gleichberechtigung bei Abschluß des Arbeitsvertrages mit den Arbeitgebern mit steigendem Erfolg erkämpft. An Stelle der individuellen Festsetzung der Arbeitszeit, der Löhne und der sonstigen Arbeitsbedingungen treten immer mehr Tarifverträge zwischen den beiderseitigen Organisationen unter Begleichung der Streitigkeiten durch gemeinsam errichtete Schiedsinstanzen.

Die Zahl dieser Tarife stieg von 1907 bis 1911 von 5324 auf 10 520; die Zahl der einbezogenen Betriebe von 111 050 auf 183 232, und die der Arbeiter von 974 564 auf 552 827.

Gleichberechtigung des Arbeiterstandes.

Unser Arbeiterstand hat mit vollem Erfolg den Kampf für die wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Gleichberechtigung mit den andern Kreisen aufgenommen und zum guten Teil durchgeführt. Die umfassende verantwortliche Mitverwaltung in der Arbeiterversicherung, in den selbstgeschaffenen Gewerkschaften und Genossenschaften, die richterliche Tätigkeit in den Schiedsgerichten der Arbeiterversicherung und in den Gewerbegerichten haben das Interesse und die Befähigung für die Mitbetätigung auch im Gemeinde- und Staatsleben wirksam gefördert. So rückt der Arbeiterstand auch in den gesetzgebenden Körperschaften, in den Gemeindeverwaltungen, in den politischen Organisationen den übrigen Ständen gleichberechtigt und gleichwertig an die Seite. Aus dem gedrückten, verachteten oder bemitleideten „Proletarier“ ist der wirtschaftlich

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 857. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/420&oldid=- (Version vom 20.8.2021)