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Vorarbeit geleistet. Das Ziel konnte auf ihren Wegen nicht erreicht werden. Da mußte konservative Politik eingreifen, um, wie sich Bismarck ausgedrückt hat, den liberalen Gedanken durch eine konservative Tat zu verwirklichen. Mit gutem Recht kann das Deutsche Reich selbst als das erste, das größte und gelungenste Stück gemeinsamer konservativer und liberaler Arbeit angesehen werden.

Es ist gegenwärtig in beiden Lagern üblich, Konservativismus und Liberalismus als die beiden grundverschiedenen Staatsauffassungen anzusehen und zu behaupten, daß eine jede vom Gegensatz zur anderen lebt. Damit kommt man dem Verhältnis zwischen deutschen Konservativen und deutschen Liberalen nicht bei. Träfe das zu, so müßten die beiden Parteien und die ihnen zugesellten Gruppen um so stärker sein, je schroffer ihr Gegensatz ist, je feindseliger sie sich gegeneinander stellen. Nun ist aber gerade das Gegenteil der Fall. Von wenigen außerordentlichen Situationen abgesehen, sind Konservative und Liberale immer dann als Parteien am stärksten, parlamentarisch am einflußreichsten gewesen, wenn sie zusammengingen. Im Kartell und im Block waren die beiden Parteien am stärksten. Und die Zeiten ihres Zusammengehens waren auch immer die, in denen die allgemeine nationale Stimmung am freudigsten und am zuversichtlichsten gewesen ist. Gewiß kann nicht alles politische Heil, nicht die Lösung jeder gesetzgeberischen Aufgabe von konservativ-liberaler Zusammenarbeit erwartet werden. Es wird immer wieder der Fall eintreten, daß sich in einzelnen, auch in wichtigen Fragen die konservativen und die liberalen Wege trennen. Denn die Gegensätze bestehen nun einmal und bestehen mit Recht. Es wäre auch grundfalsch, alle großen Leistungen auf dem Felde der inneren Politik auf das Konto konservativ-liberaler Zusammenarbeit schreiben zu wollen. An unserer sozialpolitischen Gesetzgebung, an vielen unserer Wehrvorlagen, vor allem an der Bewilligung der Flotte hat das Zentrum hervorragenden und nicht selten entscheidenden Anteil. Aber der Hader zwischen Konservativen und Liberalen ist noch immer verhängnisvoll gewesen: für die beiden Parteien selbst, für den Gang unserer inneren Politik und last not least für die Stimmung in der Nation.

Die liberal-konservativen Gegensätze werden nie verschwinden. Sie haben ihren historischen und ihren praktischen Sinn. Ihre Reibung ist ein Teil unseres politischen Lebens. Aber man soll diese Gegensätze nicht unnütz aufbauschen und nicht so große Dinge wie unversöhnliche Weltanschauungen aus ihnen machen. Damit entfernt man sich von der nüchternen politischen Wirklichkeit. Selbst der konfessionelle Gegensatz, der seit vierhundert Jahren durch die Nation geht, und den die Nation nach ihrer ganzen Veranlagung immer schwer genommen hat, tritt im praktischen politischen Leben hinter den Forderungen des Augenblicks zurück. Im Sozialismus haben wir tatsächlich einen von unserer bürgerlichen Auffassung von Recht und Sitte, Religion, Gesellschaft und Staat unterschiedenen Ideenkreis, den man eine andere Weltanschauung nennen kann. Ich habe in dieser Verbindung selbst einmal von einem Weltanschauungsgegensatz gesprochen. Aber daß einen liberalen Bürgersmann von einem konservativen Bürgersmann eine Weltanschauung trennen soll, glaubt ja im Ernst kein Mensch. Dazu sind der gemeinsamen Gedanken und Ideale, besonders in nationaler Hinsicht, zu viele, und das weite Reich des deutschen Geisteslebens in Wissenschaften und Künsten gehört

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 70. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/86&oldid=- (Version vom 31.7.2018)