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Verflachung führen, und hat vielleicht schon dahin geführt. Eine politische Weltanschauung ist ein Nonsens, denn die Welt ist glücklicherweise nicht überall politisch. Und eine parteipolitische Weltanschauung kann vollends nicht einmal die politische Welt umspannen, weil es viel zu viel Dinge und Fragen des politischen Lebens gibt, die jenseits aller Parteiprogramme und Parteiprinzipien liegen. Ein englischer Freund sagte mir einmal, es fiele ihm auf, daß in den Reden in deutschen Parlamenten das Wort „Weltanschauung“ so oft wiederkehre. Es hieße immerfort: „Vom Standpunkt meiner Weltanschauung kann ich dies nicht billigen und muß ich jenes verlangen.“ Er ließ sich von mir erklären, was deutsche Parteipolitiker unter Weltanschauung verstünden und meinte dann kopfschüttelnd: Davon wüßten englische Politiker und Parlamentarier nicht viel. Sie hätten verschiedene Ansichten, verträten verschiedene Interessen, verfolgten verschiedene Zwecke, aber sie führten doch nur praktische Erwägungen, sehr selten so hohe Dinge wie Weltanschauung ins Treffen. Wir Deutschen unterscheiden uns in diesem Punkte von den nüchternen Engländern tatsächlich nicht etwa durch größere Tiefe und Gründlichkeit, sondern durch eine irrige Einschätzung politischer Begriffe. Indem wir die Grundsätze der Parteipolitik zum System für die Anschauung alles politischen und nichtpolitischen Lebens erweitern, schaden wir uns politisch wie geistig. Politisch vertiefen wir die Gegensätze, die wir ohnehin in besonderer Stärke empfinden, dadurch, daß wir ihnen einen besonderen geistigen Wert beilegen, und wir verringern uns mehr und mehr die Zahl derjenigen Aufgaben im Staatsleben, die sich im Grunde ohne alle parteipolitische Voreingenommenheit besser und heilsamer lösen lassen. Wenn wir aber auch die Fragen des geistigen Lebens in die Parteipolitik zerren, so bedeutet das den Verlust jener geistigen Vielseitigkeit und Großherzigkeit, die dem deutschen Bildungsleben den ersten Platz in der Kulturwelt errungen haben.

Man ist in Deutschland rasch mit dem Vorwurf der Prinzipienlosigkeit bei der Hand, wenn ein Politiker oder Staatsmann unter dem Druck veränderter Verhältnisse eine früher ausgesprochene Ansicht ändert oder die Berechtigung von mehr als einer einzigen Parteianschauung gelten läßt. Die Entwicklung vollzieht sich aber nun einmal unbekümmert um Programme und Prinzipien. Vor die Wahl gestellt, eine Ansicht zu opfern oder eine Torheit zu begehen, wählt ein praktischer Mann besser die erste Alternative. Jedenfalls wird sich ein Minister, der für seine Entschlüsse der Nation verantwortlich ist, den Luxus einer vorgefaßten Meinung nicht leisten dürfen, wenn es sich darum handelt, einer berechtigten Zeitforderung nachzukommen. Und sollte ihm dann ein Widerspruch zwischen seiner jetzigen Ansicht und früheren Meinungsäußerungen vorgehalten werden, so kann ihm gegenüber Vorwürfen wegen Inkonsequenz, Zickzackkurs, Umfallen und wie die Schlagworte der Vulgärpolemik lauten, nur die Rhinozeroshaut anempfohlen werden, die im modernen öffentlichen Leben ohnedies nützlich zu sein pflegt. Es ist eine durch alle Erfahrungen erhärtete Tatsache, daß das wahre nationale Interesse noch niemals auf dem Wege einer Partei allein hat gefunden werden können. Es lag immer zwischen den Wegen mehrerer Parteien. Es gilt, die Diagonale der Kräfte zu ziehen. Sie wird bald mehr nach der Seite dieser, bald nach der Seite jener Partei führen. Ein Minister, welcher Partei er auch persönlich zuneigen möge, muß den rechten Ausgleich zwischen

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 65. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/81&oldid=- (Version vom 31.7.2018)