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entgegengetragen wurde, selten oder nie erfolgreich gewesen. Treitschke sagt irgendwo, daß die Herzen der Deutschen stets den Dichtern und Feldherren gehört hätten, nicht den Politikern. Das ist richtig, bis auf die Ausnahme der führenden Parteipolitiker. Zwar vergißt sie der Deutsche nach ihrem Tode oder Rücktritt ziemlich bald, aber solange sie wirken, besitzen sie die ganze Treue und Zuneigung aller derer, die sich zur Partei zählen. Seitdem wir politische Parteien haben, sind die Volksmänner Parteimänner und Parteiführer, ihnen sind die Parteien auch gegen Bismarck gefolgt. Recht und Unrecht, Erfolg und Mißerfolg spielen hierbei eine merkwürdig geringe Rolle. Die deutsche Treue zum Parteiführer ist selbstlos, vorurteilslos und kritiklos, wie es ja wohl die rechte Treue, die aus der Liebe stammt, sein soll. Dabei macht es eigentlich keinen Unterschied, ob der Parteiführer Erfolge hat oder nicht, ob er auf Siege oder Niederlagen zurückblickt. Es ist in Deutschland fast nie vorgekommen, daß eine Partei ihrem Führer die Heeresfolge verweigert hätte, auch wenn mit Händen zu greifen war, daß er sie in den Sumpf führte, geschweige denn, wenn sich zeigte, daß die Taktik der Parteileitung sich mit den staatlichen Zwecken und Zielen nicht deckte. Es ist in Deutschland nie besonders schwierig gewesen, eine Opposition gegen die Regierung zu organisieren, aber immer sehr schwer, oppositionelle Bewegungen innerhalb einer Partei zum Erfolge zu führen. Die Hoffnung, daß eine oppositionelle Partei im entscheidenden Augenblick auseinanderfallen werde, hat bei uns fast immer betrogen. Nachdem unser Parteileben den ersten, keinem jungen Parteileben ersparten Gärungsprozeß durchgemacht hat, nach den frühen Wandlungen und Abwandlungen zur Klärung gekommen ist, haben die Parteien eine bemerkenswerte innere Festigkeit erhalten. Wie oft ist einzelnen Parteien eine Spaltung in eine sogenannte modernere und eine alte Richtung vorhergesagt worden. Solche Prophezeiungen haben sich fast nie erfüllt. Nirgends in unserem politischen Leben finden wir einen so unerschütterlichen Konservativismus wie in unseren Parteien. Auch die radikalsten Parteien sind in ihren radikalen Programmsätzen und Allüren erzkonservativ. Dieses parteipolitische Beharrungsvermögen geht so weit, daß die Parteien auch dann noch an alten Forderungen festhalten, wenn die allgemeine Entwicklung der öffentlichen Zustände gar keine Möglichkeit mehr bietet, sie jemals erfüllen zu können.

Die durch nichts zu schreckende deutsche Treue gegen die Sache und den Führer der Partei ist ja an sich schön und rührend, moralisch achtenswert wie jede Treue. Die Politik weist in diesem Punkt bei uns sogar ein moralisches Moment auf, während ein oft gebrauchter Satz der Politik die Moral in Bausch und Bogen abzusprechen liebt. Aber wenn man einmal von Moral in der Politik reden will, so darf die Frage aufgeworfen werden, ob es nicht am Ende eine höhere Form der politischen Moral gibt. Alle Treue im Parteidienst, Prinzipien- und Mannentreue in Ehren, aber über dem Parteidienst steht der Dienst für das Vaterland. Die Parteien sind nicht ihrer selbst wegen da, sondern für das allgemeine nationale Wohl. Die höchste politische Moral ist der Patriotismus. Ein Opfer an parteipolitischer Überzeugung, eine Untreue auch gegen das Parteiprogramm im Interesse des Staates, des Reiches verdient den Vorrang vor einer Parteitreue, die sich über die Rücksichten auf das allgemeine Wohl hinwegsetzt. Weniger Parteisinn und Parteitreue, mehr Nationalgefühl und staatliche Gesinnung sind uns Deutschen zu wünschen.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 60. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/76&oldid=- (Version vom 31.7.2018)