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bewußt geworden, weil er in erster Linie das nationale Mißgeschick der letzten Jahrhunderte deutscher Entwicklung verschuldet hat. Darum war seine Überwindung der allgemeine patriotische Wunsch, der durch Bismarck erfüllt wurde. Nach menschlichem Ermessen haben wir von Sonderbestrebungen der Einzelstaaten Ernstes nicht mehr für die Einheit unseres nationalen Lebens zu fürchten. Aber vor den Äußerungen partikularistischen Geistes sind wir deshalb keineswegs geschützt. Dieser Geist hat sich nach und schon während der staatlichen Einigung Deutschlands ein anderes Feld politischer Betätigung gesucht und es gefunden im Kampf der politischen Parteien.

Wenn dem deutschen Parteileben im Gegensatz zu dem vielfach älteren und fester eingewurzelten anderer Nationen ein spezifisch partikularistischer Charakter eigen ist, so zeigt sich das gerade in denjenigen Momenten, die unser Parteileben von dem anderer Völker unterscheiden. Wir haben kleine Parteibildungen, die bisweilen gegründet sind, um engste Interessen und Zwecke zu verfolgen, einen Sonderkampf zu führen, für den innerhalb der Aufgaben eines großen Reiches kaum oder gar nicht Raum ist. Wir haben den religiösen Gegensatz in seiner ganzen Stärke in unser Parteileben hinübergenommen. Der Kampf der Stände und Klassen, deren Gegensatz die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der modernen Zeit in anderen alten Kulturstaaten mehr und mehr ausgeglichen hat, kommt im deutschen Parteileben noch wenig vermindert zum Ausdruck. Die Rechthaberei und Kleinlichkeit, die Verbissenheit und Gehässigkeit, die früher im Hader der deutschen Stämme und Staaten lebten, haben sich auf unser Parteileben fortgeerbt. In anderen Staaten ist das Parteileben eine interne nationale Angelegenheit, die parteipolitische Gesinnungsgemeinschaft mit dem Ausländer verschwindet völlig neben dem Bewußtsein nationaler Zusammengehörigkeit auch mit der inländischen Gegenpartei. Im Auslande wird die parteipolitische Ideengemeinschaft mit Fremden wohl gelegentlich in Festreden bei internationalen Kongressen akademisch zur Schau getragen, in der praktischen Politik spricht sie wenig oder gar nicht mit. Wir Deutsche haben starke Strömungen in großen Parteien, die auf eine Internationalisierung der Parteimeinung hindrängen, von der nationalen Bedingtheit des Parteilebens nicht überzeugt sind. Auch hier in moderner Form eine Wiederkehr alter deutscher Unsitte. Vor allen Dingen fehlt unseren Parteien nur zu oft die Selbstverständlichkeit, mit der die Parteien anderer Nationen die parteipolitischen Sonderinteressen hinter die allgemeinen und keineswegs nur hinter die ganz großen nationalen Interessen zurückstellen. Mit der Erfüllung der oft betonten Forderung: „Das Vaterland über die Partei“ ist es noch vielfach schwach bestellt im Deutschen Reich. Nicht eigentlich, weil des Deutschen Liebe zum Vaterlande geringer ist als die irgendeines Ausländers, sondern weil des Deutschen Liebe zu seiner Partei so viel größer ist als anderswo. Dementsprechend erscheint dem Deutschen der momentane Erfolg, wohl auch nur die momentane Machtäußerung der eigenen Partei so überaus wichtig, wichtiger als der allgemeine nationale Fortschritt.

Man kann nicht sagen, daß unsere deutschen Parteikämpfe mit größerer Leidenschaft geführt werden als in anderen Staaten. Die politische Passion des Deutschen erwärmt sich auch in erregten Zeiten selten höher als bis zu einer mittleren Temperatur. Das ist noch ein Glück. Bei anderen, namentlich bei romanischen Völkern pflegen die Parteien

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 58. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/74&oldid=- (Version vom 31.7.2018)