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römische Politik dem deutschen Kaiser in Deutschland Widerstand zu erwecken verstand. Die Schwächung der kaiserlichen Macht war den Fürsten willkommene Gelegenheit, die eigene zu stärken. Während das politische Leben Deutschlands sich in eine Unzahl selbständiger städtischer und territorialer Gemeinwesen auflöste, bildete sich in Frankreich unter einem starken Königtum der geschlossene Nationalstaat, der Deutschland in seiner europäischen Vormachtstellung ablöste. Es kam die religiöse Spaltung. Die längst nur noch äußerlich im Reiche verbundenen deutschen Territorialstaaten wurden offene Feinde durch den Bekenntnisstreit und, für deutsche Art ewig bezeichnend, die deutschen Staaten, protestantische wie katholische, scheuten den Bund mit dem andersgläubigen Auslande nicht, um die andersgläubigen Deutschen zu bekämpfen. Die Religionskriege haben das deutsche Volk um Jahrhunderte in seiner Entwicklung zurückgeworfen, das alte Reich fast bis auf den Namen vernichtet und die selbständigen Einzelstaaten geschaffen, deren Rivalitätskämpfe die nächsten zweieinhalb Jahrhunderte bis zur Gründung des neuen Deutschen Reichs erfüllten. Die deutsche West- und Nordmark gingen uns verloren und mußten in unserer Zeit mit dem Schwert wiedergewonnen werden. Die neuentdeckte Welt jenseits der Ozeane ward unter die anderen Mächte aufgeteilt, die deutsche Flagge verschwand vom Meere, um erst in diesen letzten Jahrzehnten ihr Recht wiederzugewinnen. Die endliche nationale Einigung wurde nicht in stillem Ausgleich, sondern im Kampf Deutscher gegen Deutsche gewonnen. Und wie das alte deutsche Kaiserreich gegründet wurde durch einen überlegenen Stamm, so wurde das neue gegründet durch den stärksten der einzelnen Staaten. Die deutsche Geschichte hat gleichsam ihren Kreislauf vollendet. In moderner Form, aber in alter Weise hat das deutsche Volk sein früh vollbrachtes, durch eigene Schuld wieder zerstörtes Werk nach einem Jahrtausend noch einmal und besser vollendet. Nur einem Volk von kernigster Gesundheit, von unverwüstlicher Lebensfähigkeit konnte das gelingen. Freilich haben wir Deutschen ein Jahrtausend gebraucht, zu schaffen, zu zerstören und neu zu schaffen, was anderen Völkern schon seit Jahrhunderten festes Fundament ihrer Entwicklung ist: ein nationales Staatsleben. Wollen wir weiter kommen auf den Wegen, die uns die Reichsgründung neu erschlossen hat, so müssen wir auf die Niederhaltung solcher Kräfte dringen, die aufs neue eine Gefahr für die Einheit unseres nationalen Lebens werden können. Es darf sich nicht wieder wie vor alters die beste deutsche Kraft verbrauchen im Kampf der Reichsleitung gegen partikulare Mächte und im Kampf der partikularen Mächte untereinander ohne Rücksicht auf die Interessen des Reichs.

Deutscher Sondergeist im neuen Deutschen Reiche.

Die Reichsgründung hat die staatliche Zerrissenheit Deutschlands überwunden, unser nationales staatliches Leben grundstürzend verwandelt, sie hat aber nicht zugleich den Charakter des deutschen Volkes ändern, unsere angeerbten politischen Schwächen in politische Tugenden umwandeln können. Der Deutsche blieb Partikularist auch nach 1871. Er ist es wohl anders, moderner, aber er ist es noch.

Im Partikularismus der Einzelstaaten fand der deutsche Sondergeist seinen stärksten Ausdruck, nicht den einzig möglichen. Der staatliche Partikularismus ist uns am unmittelbarsten

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 57. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/73&oldid=- (Version vom 31.7.2018)