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neuen Situation bestrebt gewesen wäre, unter Festhalten am Dreibund wenigstens für Deutschland ein gesichertes freundliches Einvernehmen mit Rußland zu bewahren. Zu diesem Zweck habe er rückwärts der Verteidigungsposition des Dreibunds der deutschen Politik noch gleichsam eine Aufnahmestellung gesichert im sogenannten Rückversicherungsvertrag mit Rußland. Über die Motive, die ihn beim Abschluß dieses Vertrags leiteten, über dessen Wert und Tragweite hat sich Fürst Bismarck auch später wiederholt und eingehend ausgesprochen. Er hat die Nichterneuerung des Vertrags durch seinen Nachfolger getadelt. Er hat darauf hingewiesen, daß auf diese Nichterneuerung der Abschluß des russisch-französischen Bündnisses gefolgt sei. Das durch keine vertragliche Abmachung mehr gebundene Rußland und das isolierte Frankreich hätten sich zu einander gefunden, nachdem die Scheidewand zwischen beiden fortgezogen worden wäre. Fürst Bismarck erblickte in dieser Schwenkung Rußlands von der Seite des Deutschen Reichs an die Seite des unversöhnten Gegners Deutschlands eine große Verstärkung der französischen Machtstellung und damit eine erhebliche Erschwerung der deutschen Politik.

Der Zweibund.

Die französisch-russische Allianz bedeutete jedenfalls eine tiefgehende Umwandlung der internationalen Lage. In den neunziger Jahren hatten wir Deutschen, wenn ich mich eines dem militärischen Leben entlehnten Bildes bedienen darf, vor der Front die durch die rapide Entwicklung des deutschen Außenhandels und den Bau der deutschen Flotte geweckte britische Rivalität, im Rücken den Zweibund, den Frankreich willens war, nach Möglichkeit für seine Hoffnungen zu nutzen. In dieser Situation mußten wir den Übergang zur Weltpolitik suchen und finden. Es war vorerst ein schmaler Weg, auf dem wir nur mit Vorsicht vorwärtsgehen konnten. Ähnlich wie während des Burenkrieges unsere Haltung zu England richteten wir während des russisch-japanischen Krieges unsere Haltung zu Rußland ein. Ohne Japan gegenüber die Pflicht korrekter und strikter Neutralität zu verletzen, war unsere Haltung gegenüber Rußland eine sehr freundschaftliche. Unsere Neutralität gegenüber Rußland war sogar um eine Nuance wohlwollender als die Frankreichs. Der russisch-japanische Krieg hinterließ als Niederschlag eine Abkühlung der russisch-französischen und eine erhöhte Wärme in den deutsch-russischen Beziehungen. Nicht so sehr durch die Schwächung Rußlands, die wie einst nach dem Krimkriege, so auch nach dem ostasiatischen Kriege vielfach überschätzt wurde, als durch die Wiederherstellung vertrauensvoller Beziehungen zwischen Rußland und Deutschland, deren einzelne Etappen die wiederholten Begegnungen zwischen den Monarchen beider Reiche bezeichneten, hatte der Zweibund allmählich viel von seiner ersten Schärfe verloren. Auch nach der bosnischen Krise haben sich die normalen Beziehungen zwischen Rußland und uns rasch wiederhergestellt, wie dies der besonders befriedigende Verlauf der Begegnung bewies, die im Juni 1909 in den finnischen Schären zwischen Kaiser Wilhelm und Kaiser Nikolaus stattfand. Es lag nicht im Vermögen und es konnte nicht in der Absicht der deutschen Politik liegen, Rußland von Frankreich zu trennen. Nachdem zwischen Rußland und Frankreich ein Bündnisvertrag abgeschlossen und in das nationale Empfinden beider Völker übergegangen war, ist uns die Möglichkeit, Rußland vom französischen

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 34. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/50&oldid=- (Version vom 31.7.2018)