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leidenschaftlichen Parteikämpfen bevorstand. Das sind, wie der Reichstagsabgeordnete Dr. Müller (Meiningen) in der Deutschen Juristen-Zeitung 1912, S. 1530 mit Recht hervorhebt, Zeiten, die für Justizreformen, über die keinerlei Einigkeit besteht, verderblich sind, und in denen die Antwort auf die Frage, welche gesetzgeberische Aufgaben sich noch erledigen lassen, von der Wahltaktik diktiert wird.

Dazu kam die damalige politische Lage, die tiefe Kluft zwischen den Parteien und der Mangel einer festgeschlossenen Majorität im Reichstage, auf die sich die Regierung hätte stützen können. In der gesetzgebenden Regelung des Strafverfahrens ist, auch wo es sich nicht um speziell politische Fragen handelt, vielfach ein Kompromiß zwischen den beiden Anschauungen erforderlich, von welchen die eine vor allem die Sicherung, daß der Unschuldige vor Strafe bewahrt bleibe, im Auge hat, die andere dagegen auf das dringendste auch Garantien dafür verlangt, daß der Schuldige zur verdienten Strafe gezogen werde. Es tut not, einem Gesetzgeber, der das Strafverfahren reformieren will, das zuzurufen, was nach der französischen Strafprozeßordnung der Schwurgerichtsvorsitzende zwar in dem rhetorischen Pathos der Revolution, aber in sachlich richtiger Zusammenfassung den Geschworenen vorhält und von ihnen beschwören läßt: „nicht zu verraten die Interessen des Angeklagten, noch die der menschlichen Gesellschaft, die ihn anklagt“. Soweit sich bei Regelung des Strafverfahrens zwischen der Regierung, die nach ihrer Aufgabe und Verantwortlichkeit besonders auf die Sicherstellung einer wirksamen Verfolgung der Schuldigen bedacht sein muß, und dem Parlament nach dieser Richtung ernste Meinungsverschiedenheiten erheben, muß, wenn die Gesetzgebung nicht stillgestellt werden soll, eine Verständigung über diese Meinungsverschiedenheiten zustande kommen. Wenn sich Kaiser Wilhelm I. Ende 1876, als die deutsche Strafprozeßordnung zugleich mit der Zivilprozeß- und Konkursordnung glücklich zum Abschluß gebracht war, dem Reichstag für die Bereitwilligkeit zu danken verpflichtet fühlte, mit der dieser den verbündeten Regierungen entgegengekommen sei, alle Meinungsverschiedenheiten im Wege der Verständigung unter sich und mit den Regierungen ausgeglichen habe, so stand damals in den ersten Jahren nach der deutschen Einigung der Reichsregierung im Reichstag eine stark geschlossene nationale mit ihr zusammengehende Majorität gegenüber. Hieran fehlte es leider, als 35 Jahre später die lang geplante große Reform der StrPO. zum Abschluß gebracht werden sollte. Und gefehlt hat es denn auch – nicht der Kommission, wohl aber dem Plenum des Reichstags – an dem besonnenen Verständnis dafür, daß sich Reformen meist nur schrittweise erreichen lassen, und daß man das erreichbare Gute nicht dem fürs erste noch unerreichbaren Bessern opfern darf.

Ohne Frage war zuzugeben, daß eine jetzt angenommene Reform des Strafverfahrens voraussichtlich, wenn demnächst die eben in Angriff genommene Reform des Strafrechts zum Abschluß gebracht sei, in einzelnen Teilen wieder geändert werden müsse. Aber das konnte, nachdem man sich einmal vor Jahren entschlossen hatte, zunächst nur mit einer Reform des Strafverfahrens als der dringendsten zu beginnen, keinen Grund abgeben, jetzt diese abschlußreife Reform des Verfahrens fallen zu lassen. Die Form des Strafverfahrens kann ohne Bedenken öfter und auf kürzere

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 310. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/326&oldid=- (Version vom 4.8.2020)