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die konsequente Durchführung von Prozeßprinzipien legte. Die Herrschaft über den Prozeß nahm man dem Gericht und legte sie ebenso wie die Betreibung des Prozesses (durch Zustellung und Ladung) in die Hände der Parteien oder richtiger ihrer Anwälte. Ganz rein und voll wurde das Prinzip der Mündlichkeit durchgeführt, so konsequent und – weltfremd, daß das Gesetz sogar vor dem Amtsgerichte von den Bürgern und Bauern verlangte, daß sie dem Richter den Prozeßstoff in freier Rede vortragen sollten.

Nun begann in den achtziger Jahren eine eigentümliche Rechtsentwicklung. Das ist der Ruf und die Verwirklichung des Rufs nach Sondergerichten. Daß die Mängel des Verfahrens, die mehr und mehr hervortraten, von den Vätern der ZPO. nicht zugegeben wurden, oder daß doch ihr Grund nicht im System, sondern in andren Umständen gefunden wurde, ist leicht erklärlich, sonach auch die Folge: das Unterbleiben einer gründlichen Revision der Prozeßordnung. Nicht für eine solche verwertete man die bessere Einsicht, die man inzwischen gewonnen hatte, sondern für die Ausgestaltung des Verfahrens vor den durch das Gesetz über die Gewerbegerichte vom 29. Juli 1890 eingerichteten Sondergerichten für gewerbliche Streitigkeiten. Durch Gesetz vom 30. Juni 1901 wurde dieses Gesetz revidiert, und nach seinem Muster wurde unter dem 6. Juli 1904 das Gesetz über die Kaufmannsgerichte erlassen. Gewiß war der Grund für diese Gesetze nicht nur die Unzufriedenheit mit dem ordentlichen Prozesse, sondern auch das Bestreben, die hier in Frage kommenden Streitigkeiten durch Gerichte entscheiden zu lassen, in denen nicht nur die Rechtskunde, sondern auch eine besondere Kunde der in Frage stehenden Verhältnisse vertreten war. Aber diesen die moderne Rechtsbewegung nicht nur auf dem Gebiete des Strafprozesses charakterisierenden Bestrebungen hätte man auch dadurch genügen können, daß man jene Standesgerichte den Amtsgerichten angegliedert hätte. Dazu hätte es jedoch einer allgemeinen Prozeßreform bedurft, zu der man noch nicht die Lust oder die Kraft hatte.

Zwar wurde die Prozeßordnung und Konkursordnung durch eine umfassende Novelle von 1898 umgestaltet; diese beschränkte sich aber im wesentlichen auf solche Punkte, in denen das Prozeßrecht in so innigem Zusammenhange mit dem bürgerlichen Rechte steht, daß mit dessen Änderung auch eine Änderung oder Ergänzung des Prozeßrechts notwendig schien. So trat denn auch die Novelle von 1898 zusammen mit dem BGB. am 1. Januar 1900 in Kraft, gleichzeitig mit einem umfassenden Spezialprozeßgesetze, das die Zwangsvollstreckung in das unbewegliche Vermögen regelt, eine Materie, die man bis dahin mit Rücksicht auf die Verschiedenheit des Immobiliarsachenrechts dem Landesrecht hatte überlassen müssen. Die umstrittenen Grundsätze über das Verfahren, auf die sich der Ruf nach einer Prozeßreform bezog, ließ diese erste große Novelle von 1898 unberührt. Nachdem zwecks Entlastung des Reichsgerichts die Revisionssumme von 1500 auf 2500 Mark erhöht worden war (im Jahre 1910 wurde abermals eine Erhöhung auf 4000 Mark nötig), folgte am 1. Juni 1909 eine zweite große Novelle. Der Entwurf wollte sich grundsätzlich auf eine Reform des Amtsgerichtsprozesses beschränken, griff aber doch in wenigen Punkten auch in das landgerichtliche Verfahren ein. Durch den Reichstag wurden diese Punkte erheblich vermehrt. Gleichwohl ist der Landgerichtsprozeß grundsätzlich derselbe geblieben, wie er bisher war. Die wesentlichste Änderung des

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 267. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/283&oldid=- (Version vom 4.8.2020)