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Oberschlesien und Ostpreußen dem Deutschtum wieder verloren gehen oder nicht? Wer nationaldeutsch empfindet, muß antworten, daß es nie und nimmer geschehen darf, daß es deutsche Pflicht und deutsches Recht ist, unseren nationalen Besitzstand im preußischen Osten zu behaupten und, wenn möglich, zu mehren. In den siebzig Jahren, die zwischen dem Wiener Kongreß und dem Beginn der preußischen Ansiedelungspolitik liegen, hatte sich gezeigt, daß weder eine peinliche Respektierung der polnischen Nationalität, noch eine Ignorierung der Nationalitätenfrage im Osten überhaupt verhindern konnten, daß das Deutschtum im Osten langsam und sicher vom Polentum verdrängt wurde. Nur eine planmäßige Förderung des Deutschtums konnte ein sicheres Erliegen des Deutschtums verhindern. Wurde dadurch der Nationalitätengegensatz zunächst verschärft, so war das gewiß beklagenswert, aber es war unvermeidlich. Es gibt nun einmal im politischen Leben zuweilen harte Notwendigkeiten, die schweren Herzens erfüllt werden, aber von deren Erfüllung keine Gefühlsregung befreien darf. Die Politik ist ein rauhes Handwerk, in dem sentimentale Seelen es selten bis zum gelungenen Gesellenstück zu bringen pflegen.

Der Kampf um den Boden.

Mit dem fundamentalen Ansiedelungsgesetz von 1886 begann Bismarck den Kampf um den Boden in großem Stil. Er forderte und erhielt 100 Millionen zum Zwecke des Ankaufs von Gütern und der Ansiedelung deutscher Bauern, also der zahlenmäßigen Verstärkung des deutschen Elementes in den Ostmarken. Das Ansiedelungswerk ist das Kernstück der preußischen Ostmarkenpolitik, denn es setzt deutsche Menschen in den östlichen Gebieten an. Und eine Frage der ziffernmäßigen Stärke der deutschen Bevölkerung neben der polnischen ist die ganze Ostmarkenfrage. Durch Ansiedelung ist die nationale Erringung des deutschen Ostens vor einem Jahrtausend begonnen worden, nur durch Ansiedelung ist der nationale Erwerb zu behaupten. Das Ostmarkenproblem ist im Grunde so unkompliziert wie möglich. Seine Lösung ist weniger eine Frage politischer Weisheit als eine Frage politischer Tapferkeit.

Bismarck griff auf Grund des neuen Gesetzes kräftig zu, und es wurden in den ersten 5 Jahren von 1886 bis 1890 etwa 46 000 ha aus polnischer Hand erworben. Der Anfang der neunziger Jahre brachte als Begleiterscheinung eines sonst beklagenswerten Ereignisses für die Tätigkeit der Ansiedelungskommission eine glänzende Chance. Durch den Notstand der Landwirtschaft sanken die Gutspreise rapide, und es wäre nicht schwer gewesen, eine gewaltige Landmasse für die Zwecke späterer Besiedelung durch Deutsche aus polnischer Hand zu erwerben. Aber eben um jene Zeit glaubte Graf Caprivi aus parlamentarischen Gründen den Polen entgegenkommen zu müssen. Den Konzessionen in Schul- und Kirchenfragen folgte die Hilfeleistung für die polnische Landbank, das heißt eine Rettungsaktion für eben den polnischen Grundbesitz, aus dessen Besitz die Ansiedelungskommission bestrebt sein mußte, Land zu erwerben. Der nächste und beabsichtigte parlamentarische Zweck wurde zwar so weit erreicht, daß die Polenfraktion der Armeevorlage von 1893 zustimmte. Aber es zeigte sich bald, daß die Haltung der Fraktion im Parlament, wie das oft geschieht, der Meinung der Partei im Lande nicht entsprach. Gelegentlich der Beratung der Flottenvorlage versagte die Mehrheit der

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 126. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/142&oldid=- (Version vom 31.7.2018)