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Hürde anreiten können, sonst wird es nichts Rechtes.“ Dieser Bemerkung des Fürsten Hohenlohe ließen sich manche ähnliche Äußerungen des Fürsten Bismarck zur Seite stellen. Regierungen und Minister dürfen Kämpfen nicht aus dem Wege gehen. Notwendiger als die Reibung der Parteien aneinander bedarf ein gesundes Volk der Reibung an der Regierung. Diese Reibung erzeugt die belebende Wärme, ohne die das politische Leben der Nation am Ende langweilig wird. Der Deutsche hat nun einmal von jeher das tiefgefühlte Bedürfnis, sich zuweilen an seiner Obrigkeit zu stoßen. Nichts verdrießt ihn mehr, als wenn er fühlt, daß dem Stoß nicht widerstanden, sondern ausgewichen wird. Und man wird immer finden können, daß die Parteien ihre Gegensätze dann am meisten verschärfen, wenn die Regierung sich abgeneigt zeigt, sich ihnen zu gelegentlichem Rekontre zu stellen. Die alte deutsche Lust am Kampfe, die wir aus Geschichte und Sage kennen, lebt in unserem politischen Leben fort. Die beste Politik ist dem Deutschen nicht die, die ihm ungestörte Ruhe läßt, sondern die, die ihn in Atem, im Kampf hält und am Ende gelegentliche Kraftproben gestattet, mit einem Worte eine Politik, die durch ihre eigene Lebendigkeit Leben zu erwecken versteht.

Freilich besteht ein Unterschied zwischen politischem Kampf und politischer Verärgerung. Jener wirkt belebend, diese vergiftend. Im Volk versteht man wohl zu erkennen, ob die Regierung ihre Kraft im Großen erprobt oder im Kleinen mißbraucht. Vom Herrn im Staat gilt dasselbe wie vom Hausherrn. Die Haustyrannen sind meist Schwächlinge, die willensstarken Männer sind daheim im Kleinen weitherzig und nachsichtig, weil sie ihre Kraft im Großen brauchen. Durch eine Politik der Nadelstiche macht sich eine Regierung nur unbeliebt, ohne sich Ansehen zu erwerben. Nichts erzeugt leichter Unzufriedenheit mit dem Bestehenden, nichts wirkt radikalisierender auf die Volksstimmung als engherziger Bureaukratismus, polizeiliche Ungeschicklichkeit und vor allem Eingriffe und Übergriffe auf geistigem Gebiet, auf dem ein Kulturvolk mit vollem Recht von der Politik unbehelligt bleiben will. Es ist nicht eine spezifisch deutsche, sondern eine allgemein menschliche Eigentümlichkeit, daß persönlich erlittene Unbill, persönlich erlebter Ärger über Mißgriffe der Verwaltungsorgane, tiefer und dauernder im Gedächtnis zu haften pflegen als die beste, die fundierteste politische Überzeugung. Die Zahl derer, die aus solchen Motiven mit dem sozialdemokratischen Stimmzettel gegen Staat und Obrigkeit demonstrieren, ist Legion. Aus der Blüte der Bureaukratie saugt die Sozialdemokratie oft den besten Honig. Man muß im Ausland gelebt haben, um ganz zu ermessen, was Deutschland und was insbesondere Preußen an seinem Beamtentum besitzt, das von großen Regenten und ausgezeichneten Ministern aus dem kostbaren Stoff deutscher Treue und Gewissenhaftigkeit, Arbeitslust und Arbeitskraft geformt, auf allen Gebieten Unvergleichliches geleistet hat. Wenn vor dem Deutschen, der in die Heimat zurückkehrt, das Land zwischen Alpen und Ostsee, Maas und Memel heute daliegt wie ein wohlgepflegter Garten, so verdanken wir das nicht zum geringsten Teil unserem Beamtentum. Dieses Beamtentum wird auch in Zukunft um so Größeres leisten, je mehr es unter Wahrung seiner traditionellen Vorzüge sich freihält von unseren alten Erbfehlern Pedanterie und Kastengeist, je freier sein Blick, je humaner seine Haltung im Verkehr mit allen Bevölkerungsklassen, je aufgeklärter seine Denkungsart. Nachgiebigkeit, Vorurteilslosigkeit

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 98. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/114&oldid=- (Version vom 31.7.2018)