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25. Die unbarmherzige Schwester.


Sehr mäßig. Mündlich, aus Schlesien. (Liegnitz, Hainau etc.)
Noten
Noten


1.
Es warn einmal zwei Schwestern,

ja Schwestern
zu Hirschberg in der Stadt, :|:
die eine gieng rum betteln, :|:
die andre war so reich. :|:

2.
Die Leut die thäten sprechen,

ja sprechen:
Du darfst nicht betteln gehn;
du hast ein reiche Schwester,
die kann dir wohl beistehn.

3.
Die arme Schwestr die wandt sich um,

ja wandt sich um
und gieng wol ihren Gang
zu ihrer reichen Schwester,
die sie in Freuden fand.

4.
„Ach Schwester, liebste Schwester,

ja Schwester,
ich bitt dich um ein Brot
für meine sechs kleinen Kinder,
die leiden Hungersnoth!“

5.
‚‚‚Ach nein, mein liebe Schwester,

ja Schwester,
ach nein, das thu ich nicht;
ein Brot soll ich anschneiden,
sechs Stücklein davon schneiden:
ach nein, das thu ich nicht!‘‘‘ –

6.
Die arme Schwestr die wandt sich um,

ja wandt sich um
und gieng wol ihren Gang
zu ihrn sechs kleinen Kindern,
die sie im Schlafe fand.

7.
Und als der Herr aus der Kirche kam,

ja Kirche kam,
wollt er aufschneidn das Brot:
das Brot war wie die Steine,
das Messer von Blute so roth.

8.
„„Ach Frau, ach liebste Fraue,

ja Fraue,
wem hast das Brot versagt?““ –
‚‚‚Ach, meiner armen Schwester,
die mich so kläglich bat!‘‘‘ –

9.
Die reiche Schwestr die wandt sich um,

ja wandt sich um
und gieng wol ihren Gang
zu ihrer armen Schwester,
die sie in Trauern fand.

10.
‚‚‚Gott grüß dich, liebe Schwester,

ja Schwester,
hier bring ich dir ein Brot
für deine sechs kleinen Kinder,
daß sie nicht leiden Noth.‘‘‘

Empfohlene Zitierweise:
Ludwig Erk (Herausgeber): Deutscher Liederhort. Verlag von Th. Chr. Fr. Enslin, Berlin 1856, Seite 77. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutscher_Liederhort_(Erk)_077.jpg&oldid=- (Version vom 25.10.2019)