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eigen Burgthor, und klopfte hart dawider. Der Thorwart trat heraus: geh und sag deiner Frauen an, hier stehe ein elender Pilgrim; nun bin ich vom weiten Gehen so müde geworden, daß ich sie um ein Almosen bitte, um Gottes und Sanct Thomas Willen, und des edlen Möringers Seele. Und als das die Frau erhörte, hieß sie eilends aufthun, und solle er dem Pilger zu essen geben ein ganzes Jahr.

Der edle Möringer trat in seine Burg, und es war ihm so leid und schwer, daß ihn kein Mann empfing; er setzte sich nieder auf die Bank, und als die Abendstunde kam, daß die Braut bald zu Bett gehen sollte, redete ein Dienstmann und sprach: sonst hatte mein Herr Möring die Sitte, daß kein fremder Pilgrim schlafen durfte, er sang denn zuvor ein Lied. Das hörte der junge Herr von Neufen, der Bräutigam, und rief: singt uns, Herr Gast, ein Liedelein, ich will euch reich begaben. Da hub der edle Möringer an und sang ein Lied, das anfängt: „eins langen Schweigens hatt ich mich bedacht, so muß ich aber singen als eh“ u. s. w.[1], und sang darin: daß ihn der junge Mann an der alten Braut rächen, und sie mit Sommerlatten (Ruthen) schlagen solle; ehemals sey er Herr gewesen und jetzt Knecht, und auf der Hochzeit ihm nun eine alte Schüssel vorgesetzt worden.



  1. Vergl. Samml. von Minnesingern I. 124. wo das Lied merkwürdig dem Walther von der Vogelweide beigelegt wird.
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Brüder Grimm: Deutsche Sagen, Band 2. Nicolai, Berlin 1818, Seite 255. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutsche_Sagen_(Grimm)_V2_275.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)