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329.
Die Jungfrau mit dem Bart.
Prätorius Wünschelruthe S. 152–153. aus mündl. Erzählung.
vgl. Kinder- und Haus-Märchen II. 66.

Zu Salfeld mitten im Fluß steht eine Kirche, zu welcher man durch eine Treppe von der nahgelegenen Brücke eingeht, worin aber nicht mehr gepredigt wird. An dieser Kirche ist als Beiwappen oder Zeichen der Stadt in Stein ausgehauen eine gekreuzigte Nonne, vor welcher ein Mann mit einer Geige kniet, der neben sich einen Pantoffel liegen hat. Davon wird folgendes erzählt. Die Nonne war eine Königs-Tochter und lebte zu Salfeld in einem Kloster. Wegen ihrer großen Schönheit verliebte sich ein König in sie und wollte nicht nachlassen, bis sie ihn zum Gemahl nähme. Sie blieb ihrem Gelübde treu und weigerte sich beständig, als er aber immer von neuem in sie drang und sie sich seiner nicht mehr zu erwehren wußte, bat sie endlich Gott, daß er zu ihrer Rettung die Schönheit des Leibes von ihr nähme und ihr Ungestaltheit verliehe; Gott erhörte die Bitte und von Stund an wuchs ihr ein langer, häßlicher Bart. Als der König das sah, gerieth er in Wuth und ließ sie ans Kreuz schlagen.

Aber sie starb nicht gleich, sondern mußte in unbeschreiblichen Schmerzen etliche Tage am Kreuz schmachten. Da kam in dieser Zeit aus sonderlichem Mitleiden ein Spielmann, der ihr die Schmerzen lindern und die Todes-Noth versüßen wollte. Der hub an und spielte

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Brüder Grimm: Deutsche Sagen, Band 1. Nicolai, Berlin 1816, Seite 426. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutsche_Sagen_(Grimm)_V1_462.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)