Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthass | |
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des Denkens aufkommen, wie die als „Individualpsychologie“ bezeichnete moderne Seelenführung, deren ganze Weisheit und Interesse an Weisheit doch zuletzt hinauskommt auf die eine Frage: „Wie habe ich Erfolg?“ Es ist die im Kerne unfruchtbare, entlebendigte und vernüchterte Seele, die in diesem Erklärertume schwelgt und nun die freilich völlig unbestreitbare Nützlichkeit und Verwendbarkeit ihrer übrigens erlernbaren Methode gewürdigt sehen will als Beweis für die Wahrheit und Richtigkeit aller Notstandserkenntnis.
Wenn der Leser jemals über eine „Psychoanalyse der Psychoanalyse“ nachdenkt, so muß er auf folgenden merkwürdigen Tatbestand stoßen. Daß eine analytische Psychologistik möglich wird, das ist selber ein „Problem der Seelenkunde“. Gehen wir aber diesem Probleme nach, dann finden wir, daß wo die Lebenskraft einer Rasse erschöpft ist, Religion sich immer umwandelt in Ethik. Daß mythisches Schöpfertum sich immer umwandelt in Theologie. Daß kosmischer Eros sich immer umwandelt in „libido“. Und daß eine ungeheure Verödung der lebendigen Seele sich kundtut in freigeistigen Theoremen, welche Mythos und Eros und alle außermenschlichen und außerwachen Wirklichkeiten „zurückführen“ auf die eine menschliche Not und Notwendigkeit, welche für unser zweckerfülltes Wachen und Handeln freilich ausschließlich treibend und aufschlußreich ist.
Eine Seelenkunde also, deren Kernpunkt es ist: jede positive Bewährung des Lebens aus einem „wunden Fleck“ begreiflich zu machen oder umgekehrt in jedem
Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthass. Jüdischer Verlag, Berlin 1930, Seite 66. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_j%C3%BCdische_Selbstha%C3%9F.pdf/66&oldid=- (Version vom 5.7.2016)