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Walther Kabel: Der Zeitsinn der Tiere (Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Band 1)

trat pünktlich seine Gattin ins Zimmer und weckte ihn mit den Worten: ‚Alter, es ist Zeit!‘ Eines Tages war die Dame zur Kaffeevisite geladen und mußte früher fort. Als sie ging, ermahnte sie ihren Mann, ja nicht die Zeit zu verschlafen. Die Uhr schlug drei – halb vier – vier – halb fünf – der Vogel blieb ruhig auf der Schulter seines Herrn sitzen. Als die Uhr aber fünf schlug und die Frau nicht ins Zimmer trat, um ihren Mann zu wecken, übernahm der Papagei den Weckruf und sagte: ‚Alter, es ist Zeit!‘ Der Herr Inspektor, innerlich darüber belustigt, stammelte, scheinbar schläfrig – wie er es auch seiner Frau gegenüber oft tat –: ‚Laß mich nur noch ein bißchen liegen!‘ Und wie sonst die Frau wartete unser Papagei zwei bis drei Minuten, dann aber, indem er den Herrn zart ans Ohrläppchen pickte, erneuerte er seinen Ruf: ‚Alter, es ist Zeit!‘ Es blieb dem Inspektor nichts weiter übrig, als aufzustehen. Von jetzt ab brauchte sich die Frau Inspektor nicht mehr um das Aufstehen ihres Gatten zu kümmern, das besorgte der Papagei.“

Am entwickeltsten ist das Zeitgefühl bei unserem treuesten Freunde, dem Hunde. Von den unzähligen Geschichten, die zum Beweise dieser Fähigkeit gelegentlich erzählt werden, sollen hier nur einige mitgeteilt werden. „Wir weilten einmal in einer kleinen Stadt bei Verwandten zu Besuch. Diese hatten ein damals siebenjähriges Töchterchen und hielten sich auch einen großen, schönen Bernhardinerhund namens Rolf, der unzertrennlich von der kleinen Else war. Klein-Elschen besuchte nun seit einigen Wochen die Schule, und da diese doch immerhin zehn Minuten vom Hause der Verwandten entfernt lag, mußte Minna, die Küchenfee, Klein-Elschen die ersten vierzehn Tage morgens um neun Uhr zur Schule bringen und sie Punkt zwölf Uhr mittags wieder abholen. Natürlich trug Minna auch die Schultasche der Kleinen, und Rolf begleitete die beiden selbstverständlich. Nach diesen ersten vierzehn Tagen erklärte der gestrenge Papa aber, nun müsse das kleine Menschenkind selbständig genug sein und allein zur Schule wandern. Am anderen Morgen solle Minna sie noch hinbringen, mittags aber müsse sie allein heimkommen. Wer beschreibt aber der Eltern und

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Walther Kabel: Der Zeitsinn der Tiere (Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Band 1). Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1915, Seite 212. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_Zeitsinn_der_Tiere.pdf/3&oldid=- (Version vom 31.7.2018)