Seite:Der Zeitsinn der Tiere.pdf/2

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Walther Kabel: Der Zeitsinn der Tiere (Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Band 1)

Der Zeitsinn der Tiere. – Daß das Zeitgefühl bei allen höherstehenden Tieren zum Teil außerordentlich gut entwickelt ist, ist eine von den Naturforschern längst als erwiesen angenommene Tatsache. Während der Mensch den Zeitsinn arg vernachlässigt hat, da er ja bei jeder Gelegenheit nur seine Taschenuhr zu Rate zu ziehen braucht, erhielt sich selbst das zum Haustier gewordene Tier im eigenen Interesse diesen Sinn, nach dem es seine ganze Lebensführung zu regeln pflegt. Rinder, die zerstreut weiden, schließen sich, wenn die gewohnte Stunde der Heimkehr in die Ställe kommt, wieder enger zusammen. Der Hahn kräht nicht etwa, wie immer wieder fälschlich behauptet wird, bei Sonnenaufgang, sondern fast regelmäßig zur selben Stunde, ob Winter oder Sommer.

Von dem Zeitsinn eines Papageis wird folgende Geschichte berichtet: „Der Theaterdirektor Pollini des Hamburger Stadttheaters hatte einen Hausinspektor, der einen Papagei besaß, den ihm sein Sohn aus Indien ganz jung mitbrachte. Das kluge Tierchen entwickelte sich nach und nach als ein ganz talentvoller Sprecher und schnappte alle im Hause täglich vorkommenden Bemerkungen auf und wiederholte sie. Der Herr Inspektor kam jeden Mittag um zweieinhalb Uhr zu Tisch und ging um fünfeinhalb Uhr wieder in das Theater. Eine große Wanduhr mit sonorem Glockenschlag zeigte die Voll- und Halbstunden an. Kam nun der Herr ausnahmsweise etwas später, so empfing ihn seine Frau gewöhnlich mit den Worten: ‚Du kommst ja so spät!‘ Der schlaue Papagei merkte sich sehr bald diese Anrede, und jedesmal – sobald die Uhr zweieinhalb geschlagen und der Herr erst nach dem Glockenschlag ins Eßzimmer trat – plapperte ihn der Papagei unaufgefordert an: ‚Kommst ja so spät!‘ Gegen drei Uhr legte sich der Inspektor zur Mittagsruhe nieder, um mit dem Glockenschlag fünf aufzustehen. Unterdessen saß der Vogel auf seiner Schulter und regte sich nicht. Damit nun der Herr die Zeit nicht verschlafe,

Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Der Zeitsinn der Tiere (Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Band 1). Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1915, Seite 211. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_Zeitsinn_der_Tiere.pdf/2&oldid=- (Version vom 31.7.2018)