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finden kann, denn jedes Schulkind bei uns weiß, daß die Apostel, die Galiläer, die H. Bewer meint, ihre Thüren aus Furcht vor den Juden deswegen verschlossen haben, weil sie glaubten, gleich ihrem Herrn und Meister von den Juden ergriffen und unter der Anschuldigung, als seien sie Gotteslästerer und Aufwiegler des Volkes, zum Tode verurteilt werden. Daran aber, daß die Apostel als Galiläer sich gefürchtet hätten, von den Juden rituell geschlachtet zu werden, und daß sie aus dieser Furcht ihre Thüren vor den Juden verschlossen hätten, daran hat bis auf H. Bewer wahrhaftig bis heute noch kein vernünftiger Mensch gedacht.

Nach alter deutscher Sitte besteht an vielen Orten noch der Gebrauch, nach einem Leichenbegängnisse einen Leichenschmaus, den sogenannten Trösterwein, zu veranstalten, um die Leidtragenden in ihrer Trauer zu trösten und wieder ein wenig aufzuheitern. In diesem Sinne, wollen wir annehmen, hat die Staatsbürger-Zeitung das Gutachten des H. Bewer nicht so fast als eine Leichenrede auf den zu Grabe getragenen Ritualmord-Aberglauben, als vielmehr wie einen Trinkspruch beim Leichenschmaus zu einiger Erheiterung für die Leidtragenden in ihren Spalten aufgenommen.

Der nächste Leidtragende dürfte wohl geeignet sein, einiges Aufsehen in den Reihen der Zuschauer zu erregen. Wie wir nämlich durch die Broschüre „Sammelgutachten über die Ritual- und Blutmordfrage, Küstrin, Hermann Brandt 1901“ (eine Fortsetzung der betr. Artikel in der Staatsbürger-Zeitung) belehrt werden, ist es der Oberbürgermeister Dr. Karl Lueger von Wien, der ebenfalls ein Gutachten in der Ritualmordfrage als „hervorragender Mann der Wissenschaft und des praktischen Lebens“ abgegeben hat. Wer den Herrn Bürgermeister nicht näher kennt, möchte es allerdings auffallend finden, daß derselbe in dieser Gesellschaft erscheint, wer jedoch weiß, daß Dr. Lueger sogar mit dem sattsam bekannten Kartographen Wengg in München, der sich bei keiner Partei, nicht einmal bei den Antisemiten in München noch einigen Ansehens erfreut, gemeinschaftliche Sache machte, auf dessen Einladung nach München kam und in der Judenfrage sprach, und in Wien sich einen Lorbeerkranz von demselben überreichen ließ, wird es schon eher begreifen, daß Dr. Lueger auch in der Gesellschaft der hervorragenden Männer der Wissenschaft und des praktischen Lebens der

Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Frank: Nachträge zu „Der Ritualmord vor den Gerichtshöfen der Wahrheit und Gerechtigkeit“. Verlagsanstalt vorm. G. J. Manz Buch- und Kunstdruckerei A.-G. München-Regensburg, Regensburg 1902, Seite 86. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_Ritualmord_vor_den_Gerichtsh%C3%B6fen_(1902).djvu/86&oldid=- (Version vom 31.7.2018)