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Dunggruben, Aborte, Häute- oder Knochenlager, Schweineställe, Schlächtereien, Färbereien, Ziegelöfen usw. ist in zahlreichen Fällen nach 1004 und 907 klagbar, einfach darum, weil ich den zugefügten Schaden in Geld oder Geldeswert dem Gerichte ad occulos demonstrieren kann. Bei dem aber, was ich „hygienische Delikte” nannte, ist das ja nicht möglich. Ich kann mich nicht vor Gericht darauf berufen, dass mein Gehirn herabgedrückt werde, dass meine Nervenzellen überlastet sind, dass sich meine geistige Arbeit verschlechtere, ja dass meine ganze individuelle „Eigentümlichkeit” vernichtet werde. Und doch liegt hier eine „Eigentumssphäre”, die unvergleichlich wichtiger und des rechtlichen Schutzes bedürftiger ist, als irgend ein Geldschrank und irgend eine Aktionärskasse. Hier offenbart sich noch die ganze Plumpheit des gegenwärtigen juristischen Eigentums- oder Sachbegriffes. Das geltende Recht wird zum Beschützer des gröbsten Besitzes. – Wenn es etwa einem Milliardär einfiele, sämtliche Bilder Zurbarans aus ihren verborgenen Bergklöstern aufzukaufen oder die gesamte geistige Hinterlassenschaft Moreaus an sich zu bringen, um diese unschätzbaren Kulturwerte dem Menschengeschlecht vorzuenthalten oder gar um sie zu verbrennen, so würde das „Recht” vollkommen auf seiner Seite stehen. Das aber sähe man nicht, dass durch diesen Schutz des „Eigentums” eine weit tiefere und wichtigere Art von „Eigentum” vergewaltigt wird: Das Eigentum aller derer, die sich diese Kunstwerke zu „eigen” machen, die sie in viel höherem Masse „besitzen” und zu „eigen haben” als der Mensch, der mit ihrer stofflichen Existenz dank seiner Kapitalmacht anfangen kann, „was ihm beliebt”. Wenn der Sozialist oder Kommunist das blinde Verfügungsrecht über Sachen bestreitet, so gilt er als „Vernichter des Eigentums”, ohne dass man bemerkt, dass er nur den verfeinerten Eigentumsbegriff gegen den gröberen ausspielt… Bei der Negatorienklage wider Lärm kann sich der Immittent sogleich auf § 906 zurückziehen, wonach die Immissionsklage unzulässig ist, wenn ich keine Schädigung meines Eigentums erweisen kann. Glückt es ihm aber mit der Berufung darauf, dass keine „Schädigung des Eigentums” vorliege, nicht, so steckt sich der Beklagte hinter § 17 ff. der Gewerbeordnung oder er weist nach, dass die Immission von Lärm „nicht wesentlich” sei (§ 906) oder endlich, dass sie den „ortsüblichen Gepflogenheiten” entspräche. Damit ist der Fall eben erledigt. Gegen psychologisch ungeklärte, vage Begriffe wie „Ortsüblichkeit”, „Eigentum”, „Wesentlichkeit” und „Unwesentlichkeit” kann keine Logik der Erfahrungen und Tatsachen aufkommen! Man kann jede Belästigung durch Lärm und Geräusch eben damit rechtfertigen, dass sie der „Ortsüblichkeit” und den „Gepflogenheiten menschlichen Verkehrs” entspräche und dass kein „wesentlicher Eingriff in fremdes Eigentum” darin gefunden werden kann…

Ein konkretes Beispiel für die Aussichtslosigkeit der Negatorienklage gegen Lärm bietet folgende interessante Entscheidung des Reichsgerichts

Empfohlene Zitierweise:
Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 88. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/91&oldid=- (Version vom 31.7.2018)