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oder Emporsteigen, Gesteigert- oder Bedrücktsein, alles Spannen, Entspannen, Zögern, Straucheln, Eilen, Stürmen; alles Stauen, Angleichen, Ausgleichen, Verwickelt- oder Befreitwerden, in dessen Formen unsre Willens- und Gefühlserregungen sich abspielen. Was wir aber diesen zahllosen Formen von Erregung etwa an deutenden Gedanken und symbolischen Erfahrungen unterlegen; auf welche empirischen Inhalte wir sie beziehen, oder welche rationalen Gegenstände und konkreten Bilder des Lebens für einen jeden von uns aus dem Strome der Musik auftauchen und über ihrem Lebensbrause schweben, wie die Seelen der einst Lebendigen über den rastlosen Gewässern der Styx, das ist für das Wesen der Musik vollkommen gleichgültig! Denn dieses Wesen steht vollkommen jenseits (oder diesseits) aller konkreten Gegenständlichkeit! Nur so etwa, wie man das Leben eines jeden Tages auch mit in[WS 1] den Schlaf hinübernimmt, so dass es im Wandeln und Weben dunkler Gefühle, aus den „Träumen”, wie aus einer neuen und doch eigenartig bekannten Dimension sich wiederspiegelt, so etwa nehmen wir das vertraute Denken und Sein des Alltags mit in die Musik hinüber. Dies aber geht die Musik selber nichts an. Für die Musik selber ist es so unwesentlich, wie etwa für „reine Zahlenlehre“, dass man sie auch als Rechenkunst, für „reine Logik“, dass man sie auch als Denktechnik betreiben kann. An und für sich bietet Musik nichts als abstrakte Form von Lebensregung. Tempo, Dynamik Agogik, Rhythmik, Modulation von Erlebnisverläufen; ähnlich wie Mathematik (ohne alle Rücksicht auf faktische Anwendbarkeit und konkrete Belege) abstrakte Notwendigkeiten der Vernunft überhaupt festlegt. Musik geht also dem Strombett des Lebens nach, wie Mathematik das des Geistes nachzeichnet.


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Nun ist es eine alte, tiefe Erfahrung, dass sich tragenden Mächten des Lebens alsbald ein „Gegenpart“ zugesellt, als ihr komisches oder tragikomisches Widerspiel, das, aus ganz den gleichen Herzensanrechten entsprungen, sie dennoch nur wie in einen Hohlspiegel, wie in karikierende und vertrübende Sphäre hineinstellt. Dies ist die grosse Wahrheit von den „Affen des Ideals“. So wie der Teufel, den Luther als „Afterbild Gottes“ bezeichnet, genau die gleichen Wesens- und Machtqualitäten aufweist, die Gott selber besitzt, nur eine jede ins Negative gewendet, – so gibt es nichts Hehres, Edles und Lebenerhebendes, das nicht alsbald von seinem Gegenspiele aufgegriffen und eben dem aufgepfropft würde, was es seinem reinen Sinne nach überwand und negierte. Wo ist je ein berechtigter Gedanke ausgesprochen, eine nützliche Partei oder Gesellschaft begründet, eine wertvolle Massregel

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: in mit
Empfohlene Zitierweise:
Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/9&oldid=- (Version vom 31.7.2018)