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Dieser „Kulturmensch”, der das „Kapital”, die „Entwicklung” und den „Fortschritt” beherrscht, floriert zurzeit im „Automobilsport”. Das aber stellt uns vor ein sozialbiologisches Problem. – Die gegebene Selektion geht auf Ausmerzung vieler diskreter Seelenseiten, auf Vertilgung alles Zart- und Feingefühls im öffentlichen Leben, auf Brachlegung der kleinen Rücksichten und täglich neu zu erübenden unscheinbaren Achtungserweise Mensch gegen Mensch. Im modernen Verkehr geht ein jeder rücksichtslos zugrunde, der sich allzulange unpraktischen Sentiments ergibt. Zudem scheint es die veränderte Selektion auf die bisher geübten Sinnesorgane abgesehen zu haben. Wenn ich mir den Kraftwagenverkehr auf Broadway, Oxford-Street oder Rue de Rivoli lebhaft vorstelle, dann möchte ich fast glauben, dass grosse anatomische Umwandlungen dem Menschengeschlechte bevorstehen. Insbesondere dürfte sein heutiger Riechapparat ihm so wenig erhalten bleiben, wie sich grüne Hasen oder violette Rebhühner zu erhalten vermöchten. Wer das dickste Trommelfell und eine undurchdringliche Nasenschleimhaut hat, besitzt einen Vorteil im Erhaltungskampf, der die Anwartschaft gibt, Vater oder Mutter des Übermenschen zu werden. Der Gewaltsieg, den die rollende Maschine und das randalierende, rasselnde, benzinstinkende Kraftfahrzeug über die primitive Naturkindschaft des Menschengeschlechtes davonträgt, muss zu biologischen Auslesebedingungen hinführen, die sich von allen Anpassungsnotwendigkeiten der Vorwelt wesentlich unterscheiden. Zumal die Nase, die doch ohnehin, seit wir Wolf und Hund in unsere Dienste gezwungen haben, eine beträchtliche Entlastung erfahren durfte, ist für den täglichen Existenzkampf so überflüssig geworden, wie etwa der Wurmfortsatz, die beiden falschen Rippen oder das Hundeschwänzchen der Wirbelsäule. Sie ist für uns nur eine störende Erinnerung an verflossene Liebesgeschichten. Ein schlichtes verdicktes Riechhäutchen würde schliesslich auch genügen. Was aber gar das Ohr betrifft, so müsste der Darwinismus dem vollkommen tauben Menschen den Lorbeer reichen, wenn nicht die Vermehrung des Lärms auch mit Vermehrung der Lebensgefährdung durch Maschinen verbunden wäre und der anschwellende Verkehr der Eisenbahnen und Kraftmotore die rascheste Orientierung durchs Ohr vor jeder anderen Sinnesreaktion wünschenswert machte. Wie sich also das unselige Menschenohr entwickeln mag, das wissen die Götter. – Es wird einerseits seine höchste Intensifizierung und Verfeinerung von Nutzen sein. Es wird andererseits diese Verfeinerung eine ewige Gefahr für die Nerven und die Gesundheit der Seele wie des Geistes umschliessen. Zweifellos aber wird die Natur ihre notwendigen Selektionen vollziehen. Vielleicht in der Art, dass sich ungleiche Gehörstypen herausbilden, deren einer geeignet ist, um in Berlin, im Eckhaus der Leipziger und Friedrichstrasse über die Theorie der Abelschen Funktionen nachzudenken, während der andere mit

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Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 49. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/52&oldid=- (Version vom 31.7.2018)