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Walther Kabel: Der Kronschatz der Cumberlander. In: Das Buch für Alle, 49. Jahrgang, Heft 9, S. 206 u. 208

Der Kronschatz der Cumberlander.
Von W. Kabel.
(Nachdruck verboten.)

Die wechselvollen Schicksale des hannoverschen Kronschatzes bilden eine fortlaufende Reihe von Abenteuern, wie sie den Kronjuwelen keines anderen Staates je zugestoßen sein dürften.

Bekanntlich fällt die älteste Geschichte des ehemaligen Königreichs Hannover mit der des Herzogtums Braunschweig zusammen. Erst vom Jahre 1569 ab kann man von einem besonderen Herzogtum Hannover sprechen, als Wilhelm, der jüngste Sohn Ernst des Bekenners von Braunschweig-Lüneburg, und sein Bruder Heinrich die Lande ihres Vaters teilten, wobei Wilhelm Lüneburg und Celle erhielt und sich den Titel „Herzog zu Celle“ zulegte. Wilhelm ist mithin der Stammvater der jüngeren Linie Braunschweig-Lüneburg geworden, während Ernst als Gründer der älteren, 1884 erloschenen Linie Braunschweig-Wolfenbüttel zu betrachten ist.

Bei dieser Teilung des ursprünglich zusammengehörigen Gebietes mußten nun die Brüder entsprechend einer Testamentsbestimmung ihres Vaters um den vorhandenen Kronschatz, der nicht zersplittert werden sollte, in der Weise losen, daß in eine Urne zwölf schwarze und zwölf weiße gleich große Steinkügelchen getan wurden und die Brüder abwechselnd aus der verdeckten Urne je eine Kugel herauszunehmen hatten. Wer unter den ersten drei Kugeln die meisten weißen gezogen hatte, dem sollten die gesamten Kronjuwelen zugesprochen werden. Der Wolfenbüttler Chronist Marhalus, ein Zeitgenosse Ernsts des Bekenners, behauptet nun, das Wilhelm seinen Bruder bei dieser Entscheidung betrogen habe, indem er bei der Vornahme des wichtigen Aktes, der in Gegenwart von drei hohen Staatsbeamten als Zeugen stattfand, drei weiße, in der Hand verborgen gehaltene Kugeln scheinbar nacheinander aus der Urne herausholte und auf den Tisch legte. Nachher habe er es verstanden, die Urne, deren Inhalt seinen Betrug leicht hätte aufdecken können, so geschickt beiseite zu schaffen, daß niemand ein Argwohn aufgestiegen wäre. Erst auf dem Totenbett seien ihm dann Gewissensbisse gekommen. Er habe die Täuschung seinen sieben Söhnen eingestanden, ohne jedoch dafür Sorge zu tragen, sein Unrecht wieder gutzumachen.

So gelangte der ganze braunschweigisch-lüneburgische Kronschatz, der nach Marhalus einen Wert von zweihunderttausend Golddukaten hatte, in den Besitz der jüngeren Linie desselben Namens. Die Söhne Wilhelms schlossen dann 1611 einen in der Weltgeschichte wohl einzig dastehenden Vertrag, um die Erbfolge im Herzogtum Celle zu ordnen und das Land nicht durch Teilungen zu zerstückeln. Der älteste von den Brüdern sollte danach allein regieren, aber nur einer von ihnen sich verheiraten dürfen, worüber wieder in ähnlicher Weise wie zweiundvierzig Jahre vorher hinsichtlich der Kronjuwelen das Los zu entscheiden hatte. Prinz Georg, der Zweitjüngste, gewann, und seine Nachkommen waren es also, die später zur Regierung gelangten, nachdem tatsächlich die übrigen Söhne Wilhelms unvermählt gestorben waren. Von den folgenden Herrschern vermehrte besonders Herzog Ernst August, gestorben 1698, den Kronschatz durch die reichen Geschenke, die das österreichische Kaiserhaus dem ihm treu ergebenen Fürsten zuwandte, von dessen Söhnen zwei unter den kaiserlichen Fahnen gefallen waren. Aus jener Zeit stammt auch die sogenannte „englische Tiara“, ein goldener, mit Edelsteinen dicht besetzter Stirnreif, der allein einen Wert von einer Viertelmillion hat.

Am 31. Oktober 1714 wurde dann Hannover durch Personalunion mit England verbunden, da die Mutter des Kurfürsten Georg Ludwig, des Sohnes des vorher erwähnten Ernst August, als Enkelin des Königs Jakob I. von England durch Parlamentsbeschluß zur Erbin von Großbritannien und Irland erklärt war und diese Würde nachher auf ihren Sohn Georg Ludwig überging. Dieser bestieg als Georg I. den britischen Thron, während er zugleich auch Kurfürst von Hannover blieb.

Zwei Jahre nach seinem Regierungsantritt wollte dann dieser Herrscher, der von seiten des hochmütigen englischen Adels bei seiner Ankunft in seinem neuen Wohnsitze London die empfindlichsten Demütigungen zu erdulden hatte, den Kronschatz seines Hauses nach England hinüberschaffen lassen, um ihn dort, wie man sich in den hannoverschen Landen erzählte, zu versetzen und so seinem ewigen Geldmangel abzuhelfen. Dieses Vorhaben wurde jedoch von einigen Adeligen, die schon die Übersiedlung des Kurfürsten nach London erzürnt hatte, durch einen Gewaltstreich vereitelt.

Die bedrohten Kronjuwelen befanden sich damals im Schlosse in Hannover unter strenger Bewachung eines besonders dazu ernannten Beamten. In einer stürmischen Novembernacht drangen sechs maskierte Männer in das Schloß ein und zwangen den Beamten mit vorgehaltenen Pistolen, ihnen die sämtlichen Kleinodien herauszugeben. Von den Kronjuwelen wurde dann ein genaues Verzeichnis angelegt, das jener Beamte sowie der Schloßhauptmann nach sorgfältiger Prüfung unterzeichnen mußten. Hierauf packten die Maskierten die Kleinodien in vier lederne Säcke, unter deren Mitnahme sie spurlos verschwanden. Alle Nachforschungen nach dem Verbleib des Kronschatzes und den Verübern dieses Handstreiches waren zunächst ergebnislos. Selbst die neuere Geschichtsforschung hat die Namen der sechs daran Beteiligten nicht feststellen können. Nur daß der Plan, die Kronjuwelen vor einer so schimpflichen Verwertung zu schützen, von Adeligen ausgeführt wurde, kann als erwiesen gelten.

Georg I. aber erhielt einige Wochen nach diesem durch edelste Motive veranlaßten Raube des Kronschatzes ein mit sechs Kreuzen unterzeichnetes Schreiben, in dem ihm mitgeteilt wurde, daß die Kleinodien von treuen Männern bewacht und später wieder, wenn ein weniger gewissenloser Fürst den Thron Hannovers bestiegen habe, zurückgegeben werden würden. Letzteres geschah jedoch erst vierundvierzig Jahre später, und zwar auf ebenso geheimnisvolle Weise wie seinerzeit die Entführung der Juwelen. Im Jahre 1760, kurz nach dem Regierungsantritt Georgs III. Königs von England und Kurfürsten von Hannover, fuhr an einem Winterabend ein nur mit einem Pferde bespannter Karren auf den Hof des Schlosses in Hannover, dessen zwei tief vermummte Begleiter sich dann sofort wieder unerkannt entfernten. Als man den Inhalt des Karrens besichtigte, fand man jene vier Ledersäcke vor und darin die sorgfältig verpackten Kronjuwelen, von denen auch nicht ein Stück fehlte.

Dieses Verschwinden und Wiederauftauchen der wertvollen Kleinodien ist hinterher stets von den Angehörigen des braunschweig-lüneburgischen Hauses geleugnet und als ein böswillig erfundenes Gerücht hingestellt worden. Auch die Augenzeugen jener Ereignisse suchten die Sache, wahrscheinlich auf höheren Befehl, nach Möglichkeit zu vertuschen. Trotzdem ist an der Richtigkeit dieser Vorfälle nicht zu zweifeln.

Fast ein halbes Jahrhundert verging, ehe die hannoverschen Kronjuwelen wieder eine besondere Rolle in der Weltgeschichte spielten. Im Jahre 1807, als beinahe ganz Deutschland der Willkür Napoleons preisgegeben war, wurde der südliche Teil Hannovers dem neugegründeten Königreich Westfalen einverleibt. König Jérôme, dem leichtsinnigen „Immer lustik“, lag nun bei seiner beständigen Geldknappheit sehr viel daran, den Kronschatz jenes verjagten Fürstenhauses, als dessen Nachfolger er sich betrachtete, in seine Gewalt zu bekommen. Doch die Kleinodien waren abermals verschwunden. Französische Geheimagenten begannen nun eifrige Nachforschungen nach dem Verbleib der Schätze, die die leeren Kassen des genußsüchtigen, verschwenderischen Jérôme aufs neue füllen sollten. Schließlich wurden zwei Grafen Kaltenborn, Vater und Sohn, unter der Beschuldigung verhaftet, den Kronschatz beiseite geschafft zu haben. Die vor Gericht geführten beiden Edelleute sollen nun während der ganzen Verhandlung, die drei Tage dauerte, auch nicht eine einzige der an sie gerichteten Fragen beantwortet haben. Schweigend nahmen sie auch das Urteil hin: Zehn Jahre Gefängnis wegen Hinterziehung von Staatseigentum. Vergeblich ließ Jérôme dann den in härtester Kerkerhaft Schmachtenden alle möglichen Versprechungen machen, um ihnen ihr Geheimnis zu entlocken. So wurde dem älteren Kaltenborn auch die Würde eines Herzogs von Wolfenbüttel angeboten, worauf dieser dem Unterhändler des Königs von Westfalen verächtlich antwortete – und das war sein erstes und letztes Wort, das er in dieser Angelegenheit sprach: „Ich bleibe, was ich bin, und wenn ihr mich morgen füsilieren laßt!“

Im Jahre 1813 hatte dann die Herrlichkeit des Königs „Immer lustik“ ein Ende gefunden. Die beiden Grafen Kaltenborn waren frei. Eine Woche später lieferten sie auch den Kronschatz an den zum Militärgouverneur von Hannover ernannten Herzog von Cambridge ab.

Sieben Jahre später sollten die Kronjuwelen aber doch nach England gelangen. König Georg IV. ließ sie gleich nach seinem Regierungsantritt über den Kanal schaffen, und in London ruhten sie dann in den königlichen Schatzkammern, bis König Ernst

Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Der Kronschatz der Cumberlander. In: Das Buch für Alle, 49. Jahrgang, Heft 9, S. 206 u. 208. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1914, Seite 206. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_Kronschatz_der_Cumberlander.pdf/2&oldid=- (Version vom 31.7.2018)