Welche Beurteilung derselbe aber in hauptstädtischen Kreisen erfuhr, erhellt am besten aus dieser Mitteilung des unparteiischen und gewiß nicht antisemitischen „Berliner Lokalanzeigers“:
„Die unerwartete Freilassung der Schächterfamilie Buschoff in Xanten hat in den hauptstädtischen kriminalistischen Kreisen allgemeines Aufsehen hervorgerufen. Bekanntlich war jene Festnahme auf Grund eines vom Herrn Kommissar Wolff an Ort und Stelle sorgfältig zusammengetragenen Belastungsmaterials erfolgt unter ausdrücklicher Zustimmung der Oberstaatsanwaltschaft, der Staatsanwaltschaft und des amtierenden Untersuchungsrichters. Es wäre somit anzunehmen gewesen, daß das entscheidende Urteil den Geschworenen überlassen werden würde. Bis jetzt ist von den „neuen Momenten“, welche diese urplötzliche Haftentlassung bewirkt haben, auch nicht das Mindeste bekannt. Auf das Gutachten des beteiligten Herrn Kriminalkommissars ist in keiner Weise zurückgegriffen worden. Auf die Gründe der Entlassung ist man darum hier sehr gespannt. Da Buschoff unschuldig sein soll, so drängt sich jetzt die naheliegende Frage auf: Wer ist dann der Schuldige? Hoffentlich bleibt das blutige Rätsel nicht ungelöst.“
Daran anschließend, brachte die „Neue Deutsche Zeitung“ in Leipzig eine Reihe von Verwahrungen, welche in der „Kreuz-Zeitung“, im „Volk“, der „Staatsbürger-Zeitung“, ja sogar in der regierungsfreundlichen „Germania“ und zahlreichen Organen des Zentrums meistens unverkürzt übernommen wurden. Diese Artikel, welche auf Grund unanfechtbarer Ermittelungen das ganze in Frage kommende Prozeßmaterial enthalten, erregten im In- und Auslande das peinlichste Aufsehen. Überall in den größeren Städten des Reichs, in Berlin, Leipzig, Hamburg, Göttingen etc., wurden Volksversammlungen einberufen, welche durch motivierte Resolutionen den Justizminister zum Einschreiten aufforderten. Ein hervorragender Zentrumsabgeordneter, Herr Fritzen, der selbst im Besitze schwer wiegender Belastungen gegen Buschoff ist, und der konservative Abgeordnete Herr Hofprediger Stöcker drohten mit Interpellationen. Unter diesem Druck konnte Herr v. Schelling nicht umhin, den Geheimen Justizrat Vietsch zur schleunigen Berichterstattung
Heinrich Oberwinder: Untersuchung über den Xantener Knabenmord. Vaterländische Verlagsanstalt, Berlin 1892, Seite 4. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_Fall_Buschoff.djvu/4&oldid=- (Version vom 31.7.2018)