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Walther Kabel: Der Doppelgänger. In: Zeit im Bild, Jahrgang 1908, S. 59, 82–84, 106–108, 130–132, 154–156, 178–180, 202–204, 226–228, 250–252, 274–276, 298–300, 322–324, 346–348, 370–372, 394–396, 418–420, 442–444, 466–468, 490–492

beugte sich vor, berührte dabei das linke Knie des Liegenden mit der Fußspitze, an der noch das halbgetrocknete Ziegelmehl klebte, nahm das gelbe Kuvert, knöpfte es unter den Paletot und stürmte davon. Ungehindert verließ er das Gebäude, eilte nach seiner Wohnung, legte Bart und Perücke ab, verschloß das Kuvert in seinem Schreibtisch und kehrte ohne jede Spur von Erregung in die Bank und an seine Arbeit zurück. Wenige Minuten nach seiner Rückkehr wurde dann der Ermordete von dem Prokuristen Westfal aufgefunden. Die Mordwaffe hat Willert ebenfalls in seiner Rocktasche verborgen mitgenommen und will sie bereits an demselben Abend von der Kreuzbrücke aus in den Fluß geworfen haben. Daher auch unser bisher vergebliches Suchen nach dem todbringenden Instrumente …“

„Entsetzlich!“ stöhnte der alte Herr. „Wenn man das so anhört, wenn man bedenkt, welcher Fülle von ineinander greifenden unglücklichen Zufällen mein Bruder zum Opfer fiel … fürchterlich! Ich habe selbst als Arzt viel Trauriges erlebt, aber das hier … das …“ – Werres schaute teilnahmsvoll auf das durch den schmerzerfüllten Ausdruck so greisenhaft erscheinende Gesicht des alten Herrn.

„Sie sagen – Zufälle! – Herr Sanitätsrat! Glauben Sie denn an das, was die Menschheit so bequem mit diesem gedankenlos hingesprochenen Wort abtut? – Ich nicht! Wir, die wir das Arbeiten dieser sogenannten Zufälle, diese zuweilen so wunderbar zusammengeschmiedete Kette von – „zufälligen“ Ereignissen mit langen, schwierigen Überlegungen zergliedern müssen, wir sehen am besten, daß es – keinen Zufall gibt. Nichts, kein Glied unseres Körpers, kein Stäubchen im Weltall wird zufällig bewegt – alles, alles hat hier auf der Erde seinen vorgezeichneten Weg. – Für mich hat dieser Fatalismus nur etwas Beruhigendes.“

Da klopfte es an die Tür. Auf lautes Herein erschien die korpulente Frau Meier und brachte atemlos einen Brief und verschwand. Werres schaute auf die Adresse.

„Herr Sanitätsrat,“ – das klang ein wenig verlegen – „würden Sie mir wohl gestatten, nur schnell diesen Brief durchzufliegen – er ist von meiner Braut.“

Der alte Herr lächelte. „Aber bitte, Herr Doktor.“

Werres reichte ihm noch eine Nummer der „Zeitschrift für Kriminalistik“ hin und riß dann das Kuvert auf. Es waren sechs engbeschriebene Briefbogen. Er nahm den ersten, las oben Ort und Datum. Dann … er schreckte leicht zusammen … eine Anrede fehlte. Und da kroch ihm plötzlich wieder dieses marternde Angstgefühl zum Herzen, preßte es zusammen, daß ihm das Atmen fast schwer wurde. Und er las – seine Blicke flogen über die Wortreihen dahin. Plötzlich … Dr. Friedrichs hob den Kopf – stöhnte Werres laut auf. – Die Briefbogen flatterten zur Erde und in dem durch die beiden Fenster so hell hineinflutenden Tageslicht sah er ein blasses, schmerzverzerrtes Gesicht … Dann war Werres aufgesprungen und an das Fenster geeilt. Der Sanitätsrat glaubte zu bemerken, wie seine Gestalt bebte, als unterdrücke er mühsam ein Schluchzen. Und dann – drang wieder dieses tiefe, stöhnende Atemholen durch den Raum …

Der alte Herr saß verlegen in seinem Sessel. Was hatte nur der Doktor?! Werres drehte sich langsam um. Er mußte eine seltene Selbstbeherrschung besitzen, denn seine Stimme klang unverändert, als er nun sagte:

„Sie hatten ja gestern bereits die Liebenswürdigkeit, Herr Sanitätsrat, mich für heute zu Tisch einzuladen. Wenn es Ihnen recht ist, gehen wir vorher noch spazieren. Ich bin überarbeitet – mir bekommt die Stubenluft nicht!“ Und dabei wieder die Handbewegung, als verscheuche er trübe Gedanken. Dr. Friedrichs war aufgestanden und legte Werres seine runzlige Greisenhand auf die Schalter. „Mein lieber junger Freund, mich täuschen Sie doch nicht – der Brief da – der hat Ihnen sehr, sehr Trauriges gebracht!“ Werres schaute auf in dieses gütige Gesicht, aus dem eine so vorsichtige, nicht verletzen wollende Teilnahme sprach.

„Ja, Herr Sanitätsrat – wozu soll ich’s Ihnen verschweigen, der Brief – der Brief ist das – Ende!“ – Er wandte sich ab und langsam, zögernd zog er von seiner linken Hand den breiten Goldreif ab, hielt ihn dann noch zwischen den Fingern, als müsse etwas geschehen, das ihm diesen Ring wieder aufstreifte … etwas … etwas … Aber in dem Zimmer war’s so unheimlich still jetzt, weiter nichts … Da schloß er den Goldreif in seinen Schreibtisch ein, bückte sich müde nach den auf dem Teppich liegenden Briefbogen und steckte sie in die Tasche seines Rockes.

„Kommen Sie jetzt, Herr Rat“ – sagte er bittend – „draußen – in der Frühlingsluft erzähle ich Ihnen eine Geschichte, die Geschichte einer Liebe …“

Dann gingen sie.


Werres erhielt die für die Entdeckung des Mörders und die Wiedererlangung des Geldes ausgesetzte Summe – 55 000 Mark von dem Friedrichs’schen Bankhause nach wenigen Tagen ausgezahlt. Er verteilte an die Kriminalbeamten Behrent, Grosse und Müller je 5000 Mark, an die Unterbeamten des Polizeipräsidiums weitere 5000 Mark, ebensoviel ließ er an die Armenverwaltung der Stadt überweisen mit der ausdrücklichen Bestimmung, daß das Geld sofort an bedürftige Personen ohne Unterschied der Konfession zu verteilen sei. Den Rest legte er durch Vermittlung[1] der Friedrichs’schen Bank in sicheren Papieren an. Bereits am 15. Mai wurde er als Kriminalkommissar nach der Provinzialhauptstadt der Nachbarprovinz einberufen. Von der Frau Rechnungsrat Schwarz und ihrer Tochter hörte er nichts mehr, vermied es auch, sich nach den beiden Damen zu erkundigen. Willert wurde in der Untersuchungshaft unheilbar geisteskrank, mußte in eine Irrenanstalt überführt werden und starb dort nach kurzer Zeit.


Ende.



Das sinkende Schiff
heißt der überaus spannungsreiche, die Gegensätze von Deutschtum und Polentum scharf beleuchtende und sie dramatisch steigernde, doch in dem Schicksal der beiden Hauptgestalten, eines Deutschen und einer Polin, versöhnlich ausklingende
Roman aus der Ostmark
von
Fritz Skowronnek
der in der nächsten
Nummer der
„Zeit im Bild“
beginnt


  1. Vorlage: Vermittelung - siehe Seite 83 (PDF 3).
Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Der Doppelgänger. In: Zeit im Bild, Jahrgang 1908, S. 59, 82–84, 106–108, 130–132, 154–156, 178–180, 202–204, 226–228, 250–252, 274–276, 298–300, 322–324, 346–348, 370–372, 394–396, 418–420, 442–444, 466–468, 490–492. Berliner Central-Verlag, Berlin 1908, Seite 492. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_Doppelg%C3%A4nger.pdf/55&oldid=- (Version vom 31.7.2018)