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Walther Kabel: Der Doppelgänger. In: Zeit im Bild, Jahrgang 1908, S. 59, 82–84, 106–108, 130–132, 154–156, 178–180, 202–204, 226–228, 250–252, 274–276, 298–300, 322–324, 346–348, 370–372, 394–396, 418–420, 442–444, 466–468, 490–492

wie reihten sich logisch seine Kombinationen von der ersten so geringen Entdeckung an die folgenden, die ihm erst die letzten Tage gebracht hatten. Er konnte stolz sein auf diesen Erfolg, zu dem ihm sein Scharfsinn, seine seltene Begabung für seinen Beruf verholfen hatte. Und doch empfand er heute keine rechte Befriedigung mehr bei diesen Gedanken, denen er sonst so gerne nachhing, die ihm dann seine Zukunft weiter ausmalten, eine Zukunft, die er sich geschaffen hatte durch eigene Energie, ohne das andere Hände ihm geholfen. Etwas Fremdes war in sein Denken gekommen, etwas, wovon er sich jetzt noch keine Rechenschaft geben konnte, das er wie eine bange Ahnung nur fühlte. Aber war das nicht Torheit, so kurz vor dem Ziele sich durch Stimmungen quälen zu lassen, die keinen Grund, keine Berechtigung hatten?! – Das unsichere Gefühl verließ ihn nicht, so sehr er auch mit allen Vernunftsgründen dagegen ankämpfte. Es waren nicht die Folgen der durchschwärmten Nacht; die hatte er mit reichlich viel kaltem Wasser bald beseitigt … Es war eine unbestimmte Furcht vor etwas, das ihn bedrohte, das sich ihm schleichend näherte und sein Herz zusammenpreßte … „Torheit,“ sagte er laut und sprang auf … „Torheit, daß ich von meinen Nerven mich so unterbekommen lasse.“ Er suchte sich einzureden, daß es die Nerven wären … Aber das gelang ihm nicht.

Draußen schellte die Flurglocke. Er hörte die schlürfenden Schritte seiner Wirtin, dann klopfte es. „Ein Brief, Herr Doktor …“ Dann verschwand die Frau wieder. Werres hielt den Brief in der Hand und schaute auf die energische Handschrift, mit der die Adresse geschrieben war. Der Brief kam von seiner Braut … Und wieder kroch ihm diese unerklärliche Angst zum Herzen, jetzt nur noch stärker als ginge von diesem Brief ein lebendiger Strom zu seinem Herzen, daß es klopfte und hämmerte … Werres ließ sich in den Sessel fallen, müde, abgespannt … Den Brief legte er vor sich hin auf den Tisch – er fürchtete ihn zu öffnen. Die Minuten gingen hin und er saß da, in Gedanken versunken. Sein Leben war an ihm vorübergeflogen, eine bunte Bilderreihe; seine freudlose Kindheit, in der er sich so nach Liebe, Elternliebe, gesehnt hatte – so sehr! Aber die hatte er nie kennen gelernt – nie! Er dachte an jene häßlichen Szenen, die sich so fest in sein Kindergemüt eingegraben hatten, wenn der Vater und die Mutter zankten – warum? Jetzt wußte er’s. Der, dem er sein Leben verdankte, hatte sein Weib betrogen – warum? – Weil die, die er Mutter genannt, den Mann nicht verstand, weil sie aufging in den Kleinlichkeiten ihrer beschränkten Lebensauffassung – weil seine Eltern nicht für einander paßten … Und dann seine Schüler-, seine Studentenjahre! Was hatte er seelisch gelitten unter der wachsenden Erkenntnis, daß es für ihn kein Elternhaus, keine Elternliebe gab – daß er der dritte von drei Menschen war, die sich nie verstehen würden … Und schließlich – dann fand er sie – sie, seine Braut. Und er, der verbitterte Mensch, hatte diesem stolzen Wesen die Liebe abgebettelt, hatte sich in ihre Launen gefügt, bis er sie eines Tages, als er ihr übermannt von der Sehnsucht nach Glück und Liebe, seine Gefühle gestanden, in seinen Armen hielt und sie ihn küßte und stammelte: „Weil ich dich liebte, habe ich dich gequält …“

Seine Eltern starben kurz hintereinander; das war nun auch länger als ein Jahr her … Da hatte er sich nur fester an das einzige Wesen geklammert, das ihm geblieben, an seine Braut. Die Menschen, die ihn nicht kannten, die nur sein höhnisches Lächeln sahen, sie wußten nicht, wie oft er bis in die Nacht auf gesessen an jenem Schreibtisch und Seiten und Seiten geschrieben hatte – für sie …! Sie kannte ihn, mußte ihn kennen … Denn seine Briefe atmeten eine Zärtlichkeit, ein berauschendes Glück aus – seine Briefe waren die Sehnsuchtsschreie eines unverstandenen, liebeleeren Herzens …

Und dann trat das eine zwischen sie, das sie ihm entfremdete … Ihretwegen hatte er doch eigentlich diesen Beruf ergriffen, war zur Polizei übergetreten, um es schneller zu einer Stellung zu bringen, die es ihm ermöglichte, sie heimzuführen … Gewiß, auch andere Bedenken hatten da mitgesprochen, seine pekuniäre Notlage und seine Neigung. Aber – wenn er ehrlich sein wollte, den Ausschlag bei diesem Wechsel seiner Stellung hatte doch nur der Gedanke an sie gegeben. Er war zu zartfühlend, um sich das einzugestehen. Und traurig hatte er so oft in ihren Briefen aus den Zeilen herausgelesen, daß sie diese seine Tätigkeit bei der Kriminalpolizei nicht billigte, daß sie mit dem Vorurteil so vieler Menschen in dem Beruf des Kriminalbeamten etwas Verächtliches sah. Vergeblich hatte er versucht, ihr die ideale Seite dieses Berufs klarzumachen, hatte so viele Worte verschwendet, um in ihr ein wohlmeinendes Interesse für seine Arbeit, seine so komplizierte geistige Arbeit zu erwecken. So hatte er ihr auch von dem Falle Friedrichs geschrieben, ihr zu beweisen gesucht, daß die Ausdrücke Spitzel und Spion für Leute, die die irdische Gerechtigkeit scharfsinnig unterstützen, nur durch einseitige Beurteilung, durch Dummheit geprägt seien! Vergeblich!

(Fortsetzung folgt)
Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Der Doppelgänger. In: Zeit im Bild, Jahrgang 1908, S. 59, 82–84, 106–108, 130–132, 154–156, 178–180, 202–204, 226–228, 250–252, 274–276, 298–300, 322–324, 346–348, 370–372, 394–396, 418–420, 442–444, 466–468, 490–492. Berliner Central-Verlag, Berlin 1908, Seite 324. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_Doppelg%C3%A4nger.pdf/34&oldid=- (Version vom 31.7.2018)