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dermaßen mit Arbeit, daß ich nie vor Mitternacht, ja oftmals nicht vor drei Uhr Morgens zu Bette gehen konnte. Dabei erhielt ich und Mary eine unzureichende Menge nahrloser, oft verdorbener Speisen, während sie die eingeborene Dienerschaft nicht zu verkürzen wagte. Hatten wir uns für unsere wenigen Penny einen Hering oder sonst eine Kleinigkeit beschafft, so warf sie es augenblicklich aus dem Fenster. Als sie mich eines Tages bei einem Töpfchen Milch ertappte, nahm sie mir es mit den Worten: „Wie dürfen Sie sich unterstehen, meinen Schweinen die Milch wegzutrinken?" – Mary konnte ihre Rückreise nicht durchsetzen, dieser Teufel von Weibe fertigte das arme Kind mit Vertröstungen und Drohungen von einem Tage zum andern ab. Und doch war dieses ganz entsittete Weib die sehr angesehene Mistreß H.! O Welt, o Menschen! So wurden in England zwei Erzieherinnen von einer sehr geachteten Familie gemißhandelt, weil es ungestraft geschehen konnte. So kam der Winter heran, der der Familie täglich neue Freuden, uns Beiden nur Beschwerden brachte, bis wir das Bett nicht mehr verlassen konnten. Frau H. erschien selbst mit ihrem Arzt an unserem Lager, damit wir nicht unbeachtet mit ihm sprechen konnten; aber auch der Arzt nahm sich wohl in Acht, ihr in irgend einer Weise durch Fragen oder Anordnungen mißfällig zu werden. Er half uns nothdürftig wieder auf die Füße, ohne uns gründlich zu heilen, Mary behielt die Abzehrung, ich die Bleichsucht, unser Ansehen flößte Schrecken und Mitleiden ein. Frau H. ersetzte unsere Schwäche durch Zanken, Schelten und Schimpfen, und wenn wir ihren unmäßigen Forderungen nicht hatten genügen können, so stand die kolossale Cybelen-Gestalt vor uns zwei Schatten, fletschte die großen falschen Zähne und focht so heftig mit den Armen, daß es unserer ganzen Gewandtheit bedurfte, uns außerhalb der Operationslinie zu halten. Fräul. H. spielte dabei stets eine stumme Rolle und tröstete mich mit der Aussicht auf eine bessere Zukunft; ihr Vorwürfe zu machen, fiel mir gar nicht ein, denn ich war die Vertraute ihres Herzens, sie war selbst unglücklich. – Nach Verlauf von drei Monaten brachte mir Frau H., als ich um meinen Gehalt bat, zwei lange Zettel, welche die Rechnungen des Arztes und Apothekers enthielten, nebst einem Ueberschuß von noch nicht zwei Pfund; auch die Reisekosten ersetzte sie mir nicht und gab vor, mein Platz von Brüssel bis Ostende sei schon bezahlt gewesen.

Ich war außer mir, denn die Hoffnung, meine Heimat zu erreichen,