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Bedürfnisse wie einem liebenden Vater vorzutragen. Oft kam die Kleine, und bat mich, ihr etwas aus der Bibel vorzulesen oder ihr vom lieben Gott zu erzählen. Dann legte ich gern alles bei Seite, nahm sie auf meinen Schooß und erfüllte ihren Wunsch mit Freuden. Natalie war ein reichbegabtes Kind, bald dichtete, bald zeichnete sie niedlich, bald erfand sie etwas. Eines Tages schrieb sie ihr ganzes Glaubensbekenntniß nieder, welches wegen der Richtigkeit der Begriffe, wenn auch nicht wegen der Schreibart ein ganz artiges Erzeugniß war. Daneben zeichnete sie eine Hand, die graziös aus einem Puffärmel langte und ein Stück Geld hielt, worunter wieder die Worte standen:

Gottes Hand
Ist allen Menschen wohlbekannt.

Gewiß kein übler Versuch für ein noch nicht sechsjähriges Kind. Aber auch Natalie war anfangs plump, und marschirte gleich Mathilde über die große Zehe. Um dem abzuhelfen, gab ich ihr Unterricht im Gehen und Tanzen, ließ sie turnen, spielte mit ihr Komödie und Hofgala, was aus dem kleinen Fleischklumpen bald eine Grazie in Miniatur machte. Nach sechs Monaten las sie schon vollkommen gut französisch und deutsch, kannte die Rangordnung aller europäischen Staaten, ihre Hauptstädte, Flüsse und Gebirge, endlich besaß sie einen kleinen Schatz geschichtlicher Thatsachen, die ich ihr bei Erklärung der Landkarte erzählt hatte. Dieses treffliche Kind unterstützte mich aber auch unbeschreiblich in meinen Bemühungen, kein Gegenstand präsentirte sich ihr, ohne ihre Aufmerksamkeit zu erregen, und über jeden holte sie sich Belehrung von mir ein. Einmal fragte sie mich, was man unter Natur verstehe, einmal wollte sie die Bestandtheile der Himmelskörper oder künstlicher Gegenstände wissen, und da sie mich nie auch nur eine Minute mit müßigen Händen sah, so forderte sie mich selbst auf, sie häkeln und nähen zu lehren, saß dann stundenlang mit den Arbeiten beschäftigt neben mir, während ich sie belehren mußte. An dieses Kind schloß sich mein Herz mit Mutterliebe und ich beschloß in der Hoffnung, in ihm ein in allen Theilen vortreffliches Werk herzustellen, Alles zu ertragen.

Um eine geistige Verbindung zwischen meinen beiden andern Zöglingen und mir herzustellen, gleichsam einen Punkt, auf dem sich unsere Seelen begegnen und vereinigen könnten, machte ich der Frau von K. den Vorschlag, täglich mit ihnen etwas von religiöser Tendenz zu lesen;