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der Gebieterin des Hauses hatte ich weg, und ich bestrebte mich daher, Vergleiche zwischen ihrer Physiognomie und denen ihrer Töchter anzustellen, um daraus auf alle künftigen Charakter-Demonstrationen zu schließen.

Lavater war von jeher einer meiner Lieblings-Philosophen, und da ich seine Behauptung stets praktisch bewährt gefunden hatte, so ließ ich mich sofort an, seine Theorieen an dem gegenwärtigen Damen-Personal in Anwendung zu bringen. Das Auge, dieser Spiegel der Seele, war bei Frau von K. groß und regelmäßig gestaltet, es hätte sonach auf Großmuth schließen lassen, hätte nicht ein häufiges Zwinkern auf Berechnung und Falschheit hingedeutet, wogegen sein Glanz auf Geistreichheit schließen ließ. Hierin, sowie im Betreff der Haare unterschieden sich ihre beiden ältesten Töchter wesentlich von ihr. Beide hatten kleine, flache, glanzlose und tiefliegende Augen, welche lauernde und drohende Blicke nach mir schossen und sogar mit dem bausbackigen Bedienten auf mich manövrirten. Ihr Haar war spröde und glanzlos, ließ also weder auf Weichheit noch Edelmuth des Herzens schließen. Der Mund hatte bei sämmtlichen drei Damen eine höchst sonderbare und charakteristische Form. Dieser Hauptzug des menschlichen Antlitzes schließt einen Gesammt-Ueberblick des ganzen Charakters in sich, so sehr er auch durch das prosaische Geschäft des Speisens hin und her gezerrt wird. Welch ein vielseitiger Künstler ist doch der menschliche Mund! wie wenig sind seine wahrhaft wunderbaren Leistungen bisher gewürdigt worden! welch schnöder Undank macht sich gegen dieses erhabenste und vollkommenste aller Werkzeuge geltend! In Thüringen muß es Kartoffel-Klöße und Schweinefleisch, Speck und Eierkuchen kauen, in Polen Suppe von Rindskaldaunen, in England Rostbeaf und Plump-Pudding verschlingen, dabei muß es alles fein züngeln und schmecken, nebenbei den ganzen Tag sprechen, nach Befinden auch küssen und singen. Und bei allen diesen unermeßlichen Anstrengungen soll der Mund auch noch schön und die Zierde des menschlichen Antlitzes sein, er, welcher bei manchen Leuten auch eine Unmasse Wein, Bier, Kaffee, Liqueuer, Wasser und Thee mit prüfendem Genusse täglich trinken und vielseitigster Kenner sein muß, er soll auch das Lächeln der Charitinnen und der Venus darstellen. Und, o Himmel, wie viele Jahre hat er gleich zu Anfang seiner Praxis am Sprechen zu lernen! – Der Mund dieser drei Damen also hatte eine sonderbare und charakteristische Form, die mich mit einem