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So hatte mich die Zunge jener alten Dame in Verbindung mit den Briefen ihrer Schwiegertochter eingewiegt, daß ich ganz in Arkadien lebte, und jene meine Zusage mit auf das Gut nahm, nachdem sie über meinen sittlichen Werth die allerumfassendsten Erkundigungen eingezogen hatte. An einem freundlichen Oktober-Tage traf ich Nachmittags in der Residenz des Fürstenthümchens ein, wo die Polizei fast so grob wie in Warschau und das Volk beinahe so glücklich wie in Groß-Polen war. Die halbe Armee hatte die Schloß- und Stadt- Wachposten besetzt, ihre Schnurrbärte waren eben so groß wie die der russischen Grenadiere, der Herr Bürgermeister und der Herr Nachtwächter zogen aber eine noch viel wichtigere Amtsmiene als ihre Collegen in London. In ihrem ziemlich ruinösen Landsitze empfing mich die Familie sehr vornehm-krautjunkermäßig, die Damen hielten mir ihre Hände zum Kusse hin, und als ich diese deutschen Kleinstädter etwas frappirt ansah und ihre Hände ungeküßt ließ, zogen sie Gesichter, als ob sie Latwerge genommen hätten. Ihre Weltbildung war mir nun sofort klar; dieser deutsche armselige Adel geht nur auf Demüthigung der übrigen Stände aus, wer seine gewöhnlich sehr hungerige Schwelle überschreitet, soll das Joch passirt haben und sich sofort als ein geringeres Wesen betrachten. Wie anders empfand der edle römische Kaiser Germaniens, welcher nicht gestattete, daß Seneca, der Lehrer des jungen Nero, in Gegenwart seines Zöglings stand oder unbedeckten Hauptes blieb, selbst nicht in Beisein des Kaisers, damit der Schüler seinen Lehrer achten lerne.

Die Familie war eben im Begriff, zu diniren; sie bestand aus den beiden genannten Damen, dem Hausherren, zwei erwachsenen Söhnen, einer dergleichen Tochter von achtzehn, und meinen zwei jüngeren Schülerinnen, der viel bewunderten Mathilde von vierzehn und der kleinen Natalie von sechs Jahren. Das Mahl war sehr anständig und reichlich, wenn es sich auch nicht mit der Tafel des russischen Ministers messen konnte; jedoch hätte der vierte Theil davon meinen bescheidenen Gaumen befriedigt, der sich einzig gegen die Hunger-Kur empört, welche viele reiche Leute den Erzieherinnen ihrer Kinder auflegen. – Die Herren beschäftigten meine Aufmerksamkeit weniger, und mein sehnlicher Wunsch war, so wenig als möglich mit ihnen in Berührung zu kommen, weil mir dieses Geschlecht bisher nur Unheil zugefügt hatte. Desto mehr beschäftigte mich der weibliche Theil der Gesellschaft. Zwei Eigenschaften