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das Schauspiel zu Ende, ich nahm daher von meinen Freundinnen Abschied, setzte mich in einen Schlitten und fuhr nach Hause.

Ich sollte hier eine ganz besondere Phase von Heuchelei kennen lernen. Nämlich ungeachtet Madame S. gewußt hatte, daß ich protestantischer Confession war und sie nicht mehr Religion im Herzen hatte als ein Perückenstock, so meinte sie doch, es sei von der größten Wichtigkeit, daß ihre Kinder nichts davon erführen, und forderte, daß ich mich bei jeder Gelegenheit bekreuzen sollte wie sie. Die getaufte Jüdin machte also der alten Christin religiöse Vorschriften. Auch nicht übel, dachte ich, und warum nicht? Läßt doch oft der große Sünder den kleinen hängen! Dennoch sprach ich der Dame unverholen meine Mißbilligung über solche Täuschung aus, bemerkte ihr auch, daß ihre eigene Schwester auch eine protestantische Gouvernante hätte, von der sie diese lügenhafte Affectation keineswegs verlange. Darauf erwiederte „Schickselche“: weder ihre Schwester noch deren Kinder seien so fromm wie sie und die ihrigen, und daß ohne Conformität der Religon keine Möglichkeit zu unserem Zusammenleben vorhanden sei. Es hätte also Noth gethan, daß ich mich wegen dieses verwetterten „Schickselche“ hätte umtaufen lassen; ich drehte ihr aber die stumme Seite meines Ich’s zu und ließ die Närrin stehen, aber „Schickselche“ blieb keineswegs bei seinem ersten Versuche stehen. Eines Tages stellte sie mich über meinen Besuch der protestantischen Kirche zur Rede und ging in der Arroganz so weit, mir directe Einwendungen dagegen zu machen. Ich fragte diesen Menschen in Paviangestalt, ob sie sich vorgesetzt habe, den Religionszwang Ferdinands II. gegen mich zu üben? ich sagte ferner der hoffnungsreichen Nachfolgerin der Herren Loyola und Torquemada, daß man sich dergleichen Ketzergerichte selbst in Rußland nicht mehr gefallen lasse, und setzte den Besuch fort. – Die deutschlutherische Kirche Warschau’s ist ein kreisförmiges Gebäude mit einer schön gewölbten Kuppel, sie steht auf einem regelmäßigen Platze dem sächsischen Garten gegenüber und besaß damals in ihrem Pfarrer, Namens Otto, einen der besten Kanzelredner, die ich jemals gehört. Mit der Kraft der Ueberzeugung verband er eine ganz eigenthümliche Beredsamkeit, einfach, herzergreifend, voll tiefer Bildung, durchsichtig. Seine Reden entbehrten phantasiereiche Bilder und blumenreiche Sprache, aber sie waren lauter Nerv und Kern, Niemand konnte ihnen widerstehen. Und diese sollte ich fortan nicht mehr hören! Madame S. begann jetzt,