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Menschenfluth zu kämpfen gehabt, aber in Praga war’s fast nicht zum Fortkommen. Es war nämlich gerade Freitag, wo allwöchentlich hier ein großer Markt gehalten wird. Mit Mühe erreichten wir den Marktplatz, eine viertelstundenlange, fünfzig Schritt breite, mit beiden Enden auf das offene Land führende, in der größten Häusergruppe liegende Straße, mit unzähligen Lücken und Brandstellen zerrissen. Hier waren zahllose Fässer mit Weichselfischen von der Größe eines erwachsenen Menschen bis zu den kleinsten Backfischen herab, Heringstonnen, mächtige Käse- und Butterfässer, große Gemüsekörbe, Schaaren lebendiger Gänse und Enten nebst tausend anderen Nahrungsmitteln ausgestellt. Wahrhaft possierlich war das Treiben und Gewühl der Verkäufer, Käufer und Zuschauer. Als wir zurück fuhren, war die Brücke durch hunderte von Wagen verstopft. Wie nun in Rußland alles durch die Knute erzwungen wird, so auch hier, die Polizeidiener sprangen wie toll, mit Knuten und Bakeln bewaffnet, zwischen den Geschirren herum und hieben auf’s Unverschämteste auf die Rücken der kleinen Bauerpferde und ihrer Fahrer hinein, bis die Verstopfung weggeprügelt war, worauf wir uns wieder nach Warschau zu bewegten.

Der Einladung von Madame D. zufolge begab ich mich mit nach ihrer Wohnung zurück, wo wir echt deutsch dinirten und uns in das Teater wielki begaben. Man führte die Oper „Lucia di Lammermoor“ auf, und ließ der Gesang allerdings viel zu wünschen übrig; hingegen war der decorative Theil der Vorstellung und die Instrumentalmusik höchst vorzüglich, ja sie hielten recht gut einen Vergleich mit der italienischen Oper in Paris und London aus. Nach der Oper folgte ein Ballet, Marsi Flora. Eine riesige Wolke ließ sich mit fast hundert Amorinen herab, welche alles, was ich bis dahin gesehen, durch ihre Leistungen übertrafen. Eine Menge Nymphen, Hirten und andere idyllische Wesen gesellten sich zu ihnen, das Publikum entzückend durch die Schönheit ihrer Formen, die rückhaltlose Preisgebung derselben, ihre durchsichtigen glänzenden Costüme und üppigen Bewegungen. – Ueberhaupt bildet das Ballet das Haupt-Interesse des hiesigen Theaters, auch unterscheiden sich die Polen durch Talent und Vorliebe dafür von allen Nationen. Dies mag darin seinen Grund haben, daß die Polen unstreitig das sinnlich-üppigste Volk Europa’s sind, für geistige Genüsse fast durchweg gleichgiltig, alles in äußerem Schimmer suchend und findend, mag es innerlich auch noch so miserabel bestellt sein. Gegen Mitternacht war