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die Erinnerung an die außerordentlichen und harten Schicksale, welche ich in England erlebte, die Furcht vor den Verfolgungen jener scheußlichen Menschen, mit denen ich dort unglücklicher Weise in Berührung gekommen war, so stark auf meine Phantasie, daß diese über meinen Verstand siegte. Ich ergriff ihre Hand, und indem ich sie mit Inbrunst an meine Lippen drückte, erwiederte ich: „Halten Sie mich nicht für undankbar, Milady, wenn ich dieses großmüthige Anerbieten nicht mit Freudigkeit ergreife; ich fühle mich so glücklich in dem Wirkungskreise, den ich Ihnen verdanke, daß es mir nicht möglich ist, denselben aufzugeben.“

Lady H. drang nun nicht weiter in mich, aber sie heftete ihre schönen milden Augen einige Augenblicke fragend auf mich; vielleicht erwartete sie eine Erklärung, denn wahrscheinlich schrieb sie meiner Anhänglichkeit andere Motive zu, allein ich war mir keiner anderen bewußt. Demungeachtet schlug ich die Augen nieder, denn mein eigenes Herz zieh mich des Undankes, indem ich meiner Wohlthäterin nicht nach England folgte. Wer aber jenes paradiesische Land kennt und sich einen Begriff von meiner angenehmen Stellung darin zu machen versteht, dabei einen Vergleich mit dem Gouvernantenleben in England anstellen kann, den wird mein Verhalten weniger befremden. Wohin ich nur kam, war ich die Gefeierte, mußte an allen Festlichkeiten und Gesellschaften Theil nehmen, ja die Gastlichkeit der portugiesischen Damen ging so weit, daß ich, wenn ich um die Mahlzeit ankam, auch daran Theil nehmen mußte. Eine solche Herzlichkeit bewirkte natürlich eine große Anhänglichkeit auf meiner Seite. Als Lady H. meinen Entschluß sah, wünschte sie mir noch viel Glück und Wohlergehen, worauf ich unter Thränen mich verabschiedete. Ich habe oft für das Wohl dieser unvergleichlichen Frau gebetet, ihr Andenken wird mir unvergeßlich bleiben. Das war ein herber Verlust, der mich lange schmerzlich verstimmte; mir war, als hätte ich meinen Schutzengel verloren. Wäre die Lady nicht so plötzlich abgereist, so hätte ich sie gewiß noch begleitet. Indeß bemüheten sich meine Freunde, mir mein Leben und Wirken so angenehm wie möglich unter ihnen zu machen, und durch diese unverstellte Zuneigung fühlte ich mich bald heimisch in Lissabon. Der Aufwand für Mundprovision kostete mich fast nichts, denn bei einer Familie mußte ich frühstücken, bei der andern zu Mittag speisen, bei einer dritten zu Abend, und so rücksichtsvoll waren sie, daß sie an Fasttagen