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naiv die Gegenfrage, ob die Gouvernanten lange bei ihr aushielten, ob sie denselben die Strafgewalt über die Zöglinge anvertraue, ihre Autorität unterstütze oder die Verleumdungsucht der Kinder ermuthige? Indem ich der Dame nun die Adressen meiner Patroninnen sandte, bat ich zugleich um die ihrer früheren Erzieherinnen, um mich meinerseits auch erkundigen zu können, weil ich der Meinung bin, daß die Rechte hier gleichmäßig sind und ich nicht gesonnen war, meinen Ruf durch eine unvorsichtige Wahl zu gefährden. Es hielt aber nicht eine Dame diese Feuerprobe aus, und so kam es, daß ich nach einem Monate immer noch unversorgt war. Ich kehrte also zu Fräulein Ch. zurück, welche mich mit offenen Armen aufnahm, während Miß M. von ihren Freunden in Beschlag genommen ward. Mit der Ch. lebte ich nun wieder wie mit einer Schwester, was jedoch nicht hinderte, daß ich sie wie eine Fremde bezahlen mußte. Sie hatte seit ihrer Etablirung einen kleinen Knaben bei sich, der, weil sie immer mit Unterricht außer dem Hause beschäftigt war, ganz sich selbst und der Magd überlassen blieb. Ich nahm mich seiner mit aufrichtigem Interesse an, fand ihn jedoch gänzlich verwildert; er sprach nicht nur den gemeinsten Londoner Dialekt, sondern hatte alle Untugenden der Straßenbuben, mit denen er sich herumtrieb, obwohl er nicht älter als sechs Jahre war. Da es nun mein Grundsatz war, alles Gute mit ganzer Seele zu thun, so ließ ich das Kind zuförderst die ganze Fülle einer aufrichtigen Theilnahme und freundlichen Zuneigung empfinden, unterhielt ihn und bereitete ihm manche angenehme Ueberraschung. Sein Lieblingsvergnügen war, mit mir in den Park zu gehen und den Drachen steigen zu lassen. Die nächste Folge war, daß aus dem bleichen Siechling ein blühender Knabe ward, der mit Zärtlichkeit an mir hing. Dann machte ich ihn mit den Lehren der Religion bekannt, impfte ihm die Liebe zu Gott ein, und bemerkte bald mit Freude, daß der Samen auf guten Acker fiel. Leider schloß das Kind bald nach seiner Umwandlung seine irdische Laufbahn, und ich blicke noch jetzt nicht ohne freudige Rührung auf das Werk der Rettung zurück.

Indessen schien Fräulein Ch.’s Zuneigung zu mir täglich zu wachsen, und da sie eine zahlreiche Bekanntschaft hatte und Gesellschaft liebte, so verging kein Abend, den sie nicht außer dem Hause verbrachte, oder Besuch empfing, dem sie mich stets auf das wärmste empfahl. Sie behauptete, ich sei sehr „verschönert“ von der Reise zurückgekehrt und daß