Die ungeheure Bangigkeit mit der sie die Frage sich selbst vorlegte, machte es ihr unmöglich sie an Leonor zu richten. Bei seiner Ankunft in Zürich hatte er von einem Sommeraufenthalt gesprochen, und als der Sommer zu Ende und er noch immer da war, hatte Cornelie die unbestimmte Hofnung er werde sich vielleicht ganz dort niederlassen – und dann auf einmal kam sie sich nicht mehr vor wie im Exil.
Durch Leonors Seele gingen ungeheure Projecte. Wenn sie ihn liebte schien ihm Alles möglich, jedes Opfer leicht, jede Schwierigkeit unbedeutend. In Zürich wollte er sich niederlassen als praktischer Arzt, in Gottes Namen die Heirath und das Vermögen fahren lassen, für Cornelie leben, bei ihr, mit ihr. Konnte sie sich nicht scheiden lassen von Eustach? würde sie es nicht wünschen, wenn sie ihn liebte, um auch äußerlich frei zu sein, über Herz und Hand schalten zu können? Gestand sie äußern Rücksichten die Fähigkeit und Berechtigung zu sie zu binden, sobald ihr Herz entschieden hatte? O nein! nein! tausendmal nein! Wenn sie ihn liebte würde sie ihm gehören wollen.
Kein Wort war gesprochen, kein Ausbruch der Empfindung erfolgt, doch Jeder wußte welch Geheimniß der Andre wie hinter einem goldenen Schleier
Ida von Hahn-Hahn: Zwei Frauen. Zweiter Band. Berlin 1845, Seite 176. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Zwei_Frauen_(Hahn-Hahn)_v_2.djvu/177&oldid=- (Version vom 31.7.2018)