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Anders war es mit Leonor. In einer andern Welt lebend als Dorothee, hatte er auch andre Bedürfnisse, andre Verhältnisse nicht blos kennen, sondern auch schätzen - und wie das leicht mit dem Versagten kommt - überschätzen und flammend begehren gelernt. Im steten Kampf mit bittrer Armuth, nach allen Seiten hin durch sie bedrückt und gehemmt, in bängliche Fesseln durch sie geschlagen, überflutete ihm der Wunsch nach Reichthum zuweilen mit einer Art von Verzweiflung die Seele. Die dürftige Lage der Mutter, die kümmerliche Existenz der Schwester, seine eigene ewige Unterordnung alles Strebens, aller Sehnsucht, aller jugendlich frohen und geistig edlen Ansprüche unter die Rücksicht auf pekuniäre Bedürftigkeit, zernagten ihm die Brust. Er war klug, schön, sehr unterrichtet, er schmachtete danach sich in diesen verschiedenen Beziehung Geltung zu verschaffen; der Drang sich über das Gewöhnliche zu erheben, welcher, wenn er mißverstanden wird, auch begabte Naturen aus ihrer Sphäre schleudert, spornte ihn athemraubend an. Eitelkeit die sich nicht befriedigt fühlte, Ehrgeiz der nicht seine Laufbahn fand, Erbitterung gegen die Bevorzugten des Schicksals, waren eben so viel prometheische Geier in seinem Innern. Er hatte die Medizin zu seinem Studium erwählt und schon als Knabe zu

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Ida von Hahn-Hahn: Zwei Frauen. Erster Band. Berlin 1845, Seite 145. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Zwei_Frauen_(Hahn-Hahn).djvu/149&oldid=- (Version vom 31.7.2018)