ihr allerdings ganz neu, daß man zur Erziehung der Töchter überhaupt Romane anwende. Sie habe gemeint, der Zweck dieser Lesegesellschaft sei: den Geist der neueren Literatur kennen zu lernen, und seine Schöpfungen zu beurtheilen; folglich gehöre die wilde, traurige, unvollkomme, rhapsodisch schöne „Lelia“ hinein. Die Mama antwortete noch zehnmal spitziger: sie stehe nicht auf einer solchen geistigen Höhe um das Buch nur vom künstlerischen Gesichtspunkt aus zu beurtheilen, und wünsche es auch nicht, weder für sich noch für ihre Töchter, mit denen sie ihre sorgsam gewählte Lectüre immer theile; aber nach guten moralischen Grundsätzen müsse freilich solche Wahl getroffen werden. Aurora entgegnete kalt und abbrechend, es stehe Jederman frei auszutreten, und die beleidigte Mama that es sogleich. Sie hatte ihre Anhänger, ihre Partei, sie wiegelte sie auf im Namen der beleidigten Moralität; Diejenigen welche kein französisch verstanden, und daher in der „Lelia“ nur Aurorens Bosheit gegen diese ihre Unvollkommenheit wahrnahmen, traten auch zur Fahne der Moral über. Genug, als das Jahr um war, war Aurora dermaßen übersättigt von Ärger und Verdruß, daß sie das Unternehmen aufgab, welches neuorganisiert in die Hände eines Jungen Arztes im benachbarten Städtchen überging.
Ida von Hahn-Hahn: Zwei Frauen. Erster Band. Berlin 1845, Seite 125. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Zwei_Frauen_(Hahn-Hahn).djvu/129&oldid=- (Version vom 31.7.2018)