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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke

Würde schaden konnte, und trank Rum; der deutsche Baron aber fuhr fort:

„Sie hätten mich, meine Herren, auf der Oberwelt in Daumenschrauben pressen können, und ich hätte meine Maske nicht vor Ihnen abgenommen. Hier ist es ein ganz anderes Ding; wer kümmert sich an diesem schlechten Ort um den ehemaligen Baron von Garnmacher? Darum verletzt mich auch Ihr Lachen nicht im geringsten, im Gegenteil, es macht mir Vergnügen, Sie zu unterhalten!“

„Ah! ce noble trait!“ rief der Incroyable und wischte sich die Thränen aus dem Auge, „reichen Sie mir die Hand, und lassen Sie uns Freunde bleiben. Was geht es mich an, ob Ihr Vater Duc oder Tailleur war. Erzählen Sie immer weiter, Sie machen es gar zu hübsch.“

„Ich genoß eine gute Erziehung, denn meine Mutter wollte mich durchaus zum Theologen machen, und weil dieser Stand in meinem Vaterland der eigentlich privilegierte Gelehrtenstand ist, so wurde mir in meinem siebenten Jahre mensa, in meinem achten amo, in meinem zehnten τύπτω,[1] in meinem zwölften pacat[2] eingebläut. Sie können sich denken, daß ich bei dieser ungemeinen Gelehrsamkeit keine gar angenehmen Tage hatte; ich hatte, was man einen harten Kopf nennt; das heißt, ich ging lieber aufs Feld, hörte die Vögel singen oder sah die Fische den Fluß hinabgleiten; sprang lieber mit meinen Kameraden, als daß ich mich oben in der Dachkammer, die man zum Musensitz des künftigen Pastors eingerichtet hatte, mit meinem Bröder[3], Buttmann[4], Schröder[5], und wie die Schrecklichen alle heißen, die den Knaben mit harten Köpfen wie böse Geister erscheinen, abmarterte.

[319] Ich hatte überdies noch einen andern Hang, der mir viele Zeit raubte; es war die von früher Jugend an mit mir aufwachsende Neigung zu schönen Mädchen. Sommers war es in meiner Dachkammer so glühend heiß wie unter den Bleidächern des Palastes Sankt Marco in Venedig; wenn ich dann das kleine Schiebfenster öffnete, um den Kopf ein wenig in die frische Luft zu stecken, so fielen unwillkürlich meine Augen auf den schönen Garten unseres Nachbars, eines reichen Kaufmanns; dort unter den schönen Akazien auf der weichen Moosbank saß Amalie, sein Töchterlein, und ihre Gespielinnen und Vertraute. Unwiderstehliche Sehnsucht riß mich hin; ich fuhr schnell in meinen Sonntagsrock, frisierte das Haar mit den Fingern zurecht und war im Flug durch die Zaunlücke bei der Königin meines Herzens.

Denn diese Charge begleitete sie in meinem Herzen im vollsten Sinne des Wortes. Ich hatte in meinem eilften Jahre den größten Teil der Ritter- und Räuberromane meines Vaterlandes gelesen, Werke, von deren Vortrefflichkeit man in andern Ländern keinen Begriff hat, denn die erhabenen Namen Cramer[6] und Spieß[6] sind nie über den Rhein oder gar den Kanal gedrungen. Und doch, wieviel höher stehen diese Bücher alle als jene Ritter- und Räuberhistorien des Verfassers von „Waverley“[7], der kein anderes Verdienst hat, als auf Kosten seiner Leser recht breit zu sein. Hat der große Unbekannte solche vortreffliche Stellen wie die, welche mir noch aus den Tagen meiner Kindheit im Ohr liegen: ‚Mitternacht, dumpfes Grausen der Natur, Rüdengebell, Ritter Urian tritt auf.‘

Wem pocht nicht das Herz, wem sträubt sich nicht das Haar empor, wenn er nachts auf einer öden, verlassenen Dachkammer dieses liest? Wie fühlte ich da das ‚Grausen der Natur!‘ und wenn der Hofhund sein Rüdengebell heulte, so war die Täuschung so vollkommen, daß sich meine Blicke ängstlich an die schlecht


  1. τύπτω, d. h. schlagen, hauen.
  2. Soll wohl pakad heißen, d. h. er hat heimgesucht; ein Paradigma der hebräischen Grammatik.
  3. Christian Gottlob Bröder (1745–1819), Pastor und Superintendent, ist der Verfasser einer „Prakt. Grammatik der lat. Sprache“ und einer „Kleinen lat. Grammatik“, die lange Zeit beim Unterricht an den Schulen gebraucht wurden.
  4. Phil. Karl Buttmann (1764–1829), Gymnasialprofessor, gab eine „Griech. Grammatik“ heraus.
  5. J. F. Schröder gab ein hebräisches Übungsbuch, die evangel. Perikopen, zum Übersetzen aus dem Deutschen ins Hebräische heraus. – Nik. Wilh. Schröder (gest. 1789), Verfasser einer hebräischen Grammatik.
  6. a b Karl Gottlob Cramer (1758–1817) und Christian Heinrich Spieß (1755–99) sind Verfasser zahlreicher elender, aber ihrerzeit vielgelesener Ritterromane, wie sie dem Erscheinen von Goethes „Götz von Berlichingen“ in trauriger Nachahmung folgten.
  7. Walter Scott.
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 318–319. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_2_161.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)