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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke

„Sprich immer, meine Tochter“, bat die schöne Königin, „der Gram ist ein Stein, der den einzelnen niederdrückt, aber zwei tragen ihn leicht aus dem Wege.“

„Du willst es“, antwortete Märchen, „so höre: Du weißt, wie gerne ich mit den Menschen umgehe, wie ich freudig auch zu dem Ärmsten vor seine Hütte sitze, um nach der Arbeit ein Stündchen mit ihm zu verplaudern; sie boten mir auch sonst gleich freundlich die Hand zum Gruß, wenn ich kam, und sahen mir lächelnd und zufrieden nach, wenn ich weiter ging; aber in diesen Tagen ist es gar nicht mehr so!“

„Armes Märchen“, sprach die Königin und streichelte ihr die Wange, die von einer Thräne feucht war; „aber du bildest dir vielleicht dies alles nur ein?“

„Glaube mir, ich fühle es nur zu gut“, entgegnete Märchen, „sie lieben mich nicht mehr. Überall, wo ich hinkomme, begegnen mir kalte Blicke; nirgends bin ich mehr gern gesehen; selbst die Kinder, die ich doch immer so liebhatte, lachen über mich und wenden mir altklug den Rücken zu.“

Die Königin stützte die Stirne in die Hand und schwieg sinnend.

„Und woher soll es denn“, fragte die Königin, „kommen, Märchen, daß sich die Leute da unten so geändert haben?“

„Sieh’, die Menschen haben kluge Wächter aufgestellt, die alles, was aus deinem Reich kommt, o Königin Phantasie, mit scharfem Blicke mustern und prüfen. Wenn nun einer kommt, der nicht nach ihrem Sinne ist, so erheben sie ein großes Geschrei, schlagen ihn tot oder verleumden ihn doch so sehr bei den Menschen, die ihnen aufs Wort glauben, daß man gar keine Liebe, kein Fünkchen Zutrauen mehr findet. Ach! wie gut haben es meine Brüder, die Träume, fröhlich und leicht hüpfen sie auf die Erde hinab, fragen nichts nach jenen klugen Männern, besuchen die schlummernden Menschen und weben und malen ihnen, was das Herz beglückt und das Auge erfreut!“

„Deine Brüder sind Leichtfüße“, sagte die Königin, „und du, mein Liebling, hast keine Ursache, sie zu beneiden. Jene Grenzwächter [65] kenne ich übrigens wohl; die Menschen haben so unrecht nicht, sie aufzustellen; es kam so mancher windige Geselle und that, als ob er geraden Wegs aus meinem Reiche käme, und doch hatte er höchstens von einem Berge zu uns herübergeschaut.“

„Aber warum lassen sie dies mich, deine eigene Tochter, entgelten?“ weinte Märchen; „Ach! wenn du wüßtest, wie sie es mir gemacht haben! sie schalten mich eine alte Jungfer und drohten, mich das nächste Mal gar nicht mehr hereinzulassen.“

„Wie, meine Tochter nicht mehr einzulassen?“ rief die Königin, und Zorn erhöhte die Röte ihrer Wangen; „aber ich sehe schon, woher dies kommt; die böse Muhme hat uns verleumdet!“

„Die Mode? nicht möglich!“ rief Märchen, „sie that ja sonst immer so freundlich.“

„O, ich kenne sie, die Falsche“, antwortete die Königin, „aber versuche es ihr zum Trotze wieder, meine Tochter; wer Gutes thun will, darf nicht rasten.“

„Ach Mutter! wenn sie mich dann ganz zurückweisen, oder wenn sie mich verleumden, daß mich die Menschen nicht ansehen, oder einsam und verachtet in der Ecke stehen lassen?“

„Wenn die Alten, von der Mode bethört, dich gering schätzen, so wende dich an die Kleinen, wahrlich sie sind meine Lieblinge, ihnen sende ich meine lieblichsten Bilder durch deine Brüder, die Träume, ja ich bin schon oft selbst zu ihnen hinabgeschwebt, habe sie geherzt und geküßt und schöne Spiele mit ihnen gespielt; sie kennen mich auch wohl, sie wissen zwar meinen Namen nicht, aber ich habe schon oft bemerkt, wie sie nachts zu meinen Sternen herauflächeln und morgens, wenn meine glänzenden Lämmer am Himmel ziehen, vor Freuden die Hände zusammenschlagen. Auch wenn sie größer werden, lieben sie mich noch, ich helfe dann den lieblichen Mädchen bunte Kränze flechten, und die wilden Knaben werden stiller, wenn ich auf hoher Felsenspitze mich zu ihnen setze, aus der Nebelwelt der fernen blauen Berge hohe Burgen und glänzende Paläste auftauchen lasse und aus den rötlichen Wolken des Abends kühne Reiterscharen und wunderliche Wallfahrtszüge bilde.“

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 64–65. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_2_034.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)