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sie ließen mich nicht einmal zum Wort kommen, warfen mich herab und behandelten mich ganz gemein und roh. Seht nur meinen Mantel an, wie sie ihn zerrissen haben! Es ist schade dafür, er hat mich vier Goldgulden gekostet, und Bertha behauptete immer, daß mir rosenfarb so gut zu Gesicht stehe.“

Georg wußte nicht, ob er über die Thorheit des Schreibers lachen oder es als hohen stoischen Gleichmut bewundern sollte, daß er, kaum dem Tode entgangen, sein zerrissenes Mäntelein bedauern konnte. Er wollte ihn noch weiter über seine Schicksale befragen, als ihn ein Geräusch vom Vorplatz des Schlosses her ans Fenster lockte; er sah hinaus und winkte schnell Herrn Dieterich herbei, um ihm das Schauspiel gefallener irdischer Größe zu zeigen.

Der Doktor Calmus hielt seinen Umzug durch die Stadt. Er saß verkehrt auf einem Esel; die Landsknechte hatten ihn wunderlich ausgeschmückt, sie hatten ihm eine spitzige Mütze von Leder aufgesetzt, an deren Spitze eine Hahnenfeder angebracht war. Vor ihm gingen zwei Trommler, zu seinen Seiten sah man in gravitätischen Schritten den Magdeburger und den Wiener, den ehemaligen Hauptmann Muckerle und seinen tapfern Oberst gehen, die hin und wieder mit den Enden ihrer Hellebarden den Esel zu kühnen Sprüngen antrieben. Ein ungeheurer Volkshaufe umschwärmte ihn und warf ihn mit Eiern und Erde.

Der Ratsschreiber schaute trübselig auf seinen Gefährten hinab und seufzte: „’s ist hart, auf dem Esel reiten zu müssen“, sagte er, „aber doch immer noch besser als gehängt werden.“ Er wandte sich ab von dem Schauspiel und blickte nach einer andern Seite des Schloßplatzes. „Wer kommt denn hier?“ fragte er den jungen Ritter. „Schaut, in einem solchen Kasten zog ich zu Felde.“

Georg wandte sich um. Er sah einen Zug von Reisigen, die eine Sänfte in ihrer Mitte führten. Ein alter Herr zu Pferd folgte dem Zug, der jetzt aufs Schloß einbeugte; Georg sah schärfer hinab. „Sie sind’s“, rief er, „wahrhaftig, es ist der Vater, und in der Sänfte wird sie sitzen!“ In einem Sprung war er zur Thüre hinaus, und der Ratsschreiber sah ihm staunend nach. „Wer soll es sein, welcher Vater?“ fragte er; er schaute noch einmal durchs [347] Fenster, die Sänfte hielt vor der Zugbrücke des Schlosses, und in demselben Augenblicke stürzte Georg aus dem Thor. Herr Dieterich sah ihn die Thüre der Sänfte ungestüm aufreißen, eine verschleierte Dame stieg aus, sie schlug den Schleier zurück – und wunderbar! es war das Bäschen Marie von Lichtenstein. „Ei! sehe doch einer! er küßt sie auf öffentlicher Straße“, sprach der Ratsschreiber kopfschüttelnd vor sich hin, „was das eine Freude ist. Aber wehe, jetzt kommt der Alte um die Sänfte herum, der wird Augen machen! Der wird schimpfen! – doch wie! er nickt dem Junker freundlich zu, er steigt ab, er umarmt ihn. Nein! das geht nicht mit rechten Dingen zu.“

Und dennoch schien es durchaus mit rechten Dingen zuzugehen; denn als der Schreiber des Großen Rates aus dem Zimmer auf die Galerie trat, um sich zu überzeugen, daß ihn seine Augen getäuscht haben müssen, kam sein Oheim, der alte Herr von Lichtenstein, die Treppe herauf. An der rechten Hand führte er Georg von Sturmfeder, an der linken – Bäschen Marie. Welche Veränderung war mit jenen holden Zügen vorgegangen, die sich so tief in sein Herz, in sein Gedächtnis geprägt hatten.

In Ulm war sie ihm zum erstenmal wie ein Bote aus einem unbekannten Lande erschienen, so erhaben war der Blick ihrer schönen blauen Augen, so majestätisch ihre Stirne, so sinnig jenes kleine Fleckchen zwischen den schönen dunkeln Bogen der Brau’n. Er hatte oft und viel darüber nachgedacht, in was denn der Zauber bestehe, der ihn so unwiderstehlich fess’le? Die Ulmer Mädchen hatten frischere Wangen, lebhaftere Augen, ein schalkhafteres Lächeln und den fröhlichen frischen Glanz einer heitern Jugend. Und dennoch war Marie unter ihnen gestanden, still und groß wie eine Königin. War es vielleicht der dunkle Schleier ihrer Wimpern, der sich oft mit unnennbarem Reiz über das Auge herabsenkte, um das Geheimnis einer stillen Thräne zu verhüllen? Waren es die feinen, geschlossenen Lippen, von süßer Wehmut umlagert? War es der zarte Wechsel der Farben auf ihren Zügen, die bald nur gebietende Hoheit auszustrahlen, bald das reizende Geheimnis leidender Liebe zu verraten schienen? Berthas Heiterkeit, Berthas fröhliche, neckende Gunst hatte dieses

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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 346–347. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_1_196.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)