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ihre gelblichen Locken mit Mariens dunklen Haaren, ihr rundes, frisches Gesichtchen mit den ovalen, schärferen Formen ihrer Base, wie ihre freundlichen, beweglichen hellbraunen Augen in auffallendem Kontrast stunden mit dem sinnenden, geistvollen Blick Mariens: so wurde auch jede ihrer raschen, lebhaften Bewegungen zum Gegensatz gegen jene stille Trauer.

Bertha schien ihre rosigste Laune hervorgeholt zu haben, um ihre Base zu trösten oder doch ihren großen Schmerz zu zerstreuen. Sie erzählte und schwatzte, sie lachte und ahmte die Gebärde und Sprache vieler Leute nach, sie versuchte alle jene tausend kleinen Künste, womit die Natur ihre fröhliche Tochter ausstattete; aber wir glauben, daß sie wenig ausrichtete, denn nur hie und da gleitete ein wehmütiges, schnell verschwebendes Lächeln über Mariens feine Züge hin.

Endlich ergriff sie, als gar nichts mehr helfen wollte, ihre Laute, die in der Ecke stand. Marie besaß auf diesem Instrument große Fertigkeit, und Bertha hätte sich sonst nicht leicht bewegen lassen, vor der Meisterin zu spielen. Doch heute hoffte sie durch ihr Geklimper wenigstens ein Lächeln ihrer Base zu entlocken. Sie setzte sich mit großem Ernste nieder und begann:

„Fragt mich jemand, was ist Minne?
Wüßt’ ich gern auch darum meh(r).
Wer nun recht darüber sinne
Sag’ mir, warum thut sie weh?
Minne ist Liebe, thut sie wohl;
Thut sie weh, heißt sie nicht Minne.
O, dann weiß ich, wie sie heißen soll.“[1]

„Wo hast du dies alte, schwäbische Liedchen her?“ fragte Marie, die der einfachen Musik und dem lieblichen Text gerne ihr Ohr lieh.

„Nicht wahr, es ist hübsch? aber es kommt noch viel hübscher, wenn du hören willst“, antwortete Bertha; „das hat mich in Nürnberg ein Meistersänger, Hans Sachs[2], gelehrt, es ist übrigens [103] nicht von ihm, sondern von Walther von der Vogelweide, der wohl vor dreihundert Jahren gelebt und geliebt hat. Höre nur weiter:

Ob ich recht erraten könne,
Was die Minne sei? so sprecht ja;
Minne ist zweier Herzen Wonne;
Teilen sie gleich, so ist sie da.
Doch – soll ungeteilt sein,
So kann ein Herz allein sie nicht enthalten;
Willst du mir helfen, traute Jungfrau mein?

Nun, hast du geteilt mit dem armen Junker?“ fragte die schelmische Bertha ihre errötende Base. „Vetter Kraft möchte gerne auch mit mir teilen, einstweilen kann er aber seinen ganzen Part allein tragen. Doch du wirst mir wieder ernst, ich muß schon noch ein Liedchen des alten Herrn Walthers singen:

Ich weiß nicht, wie es damit geschah,
Meinem Auge ist’s noch nie geschehen,
Seit ich sie in meinem Herzen sah,
Kann ich sie auch ohne Augen sehen;
Da ist doch ein Wunder mit geschehen,
Denn wer gab es, daß es ohne Augen
Sie zu aller Zeit mag sehen?

Wollt ihr wissen, was die Augen sein,
Womit ich sie sehe durch alle Land,
Es sind die Gedanken des Herzens mein,
Damit schau’ ich durch Mauer und Wand,
Und hüten diese sie noch so gut,
Es schauen sie mit vollen Augen
Das Herz, der Wille und mein Mut.“[3]

Marie lobte das Lied des Herrn Walther von der Vogelweide als einen guten Trost beim Scheiden; Bertha bestätigte es. „Ich weiß noch einen Reim“, sagte sie lächelnd, und sang:

„Und zog sie auch weit in das Schwabenland,
Seine Augen schauen durch Mauer und Wand,


  1. Diese und die folgende Strophe beginnen das Lied Walthers von der Vogelweide: „Saget mir ieman, waz ist minne?“ (Bei Lachmann, S. 69.)
  2. Hans Sachs (1494–1576) hatte sich 1516 in Nürnberg als Schuhmachermeister niedergelassen.
  3. Dritte und vierte Strophe von Walthers Lied:
    „Summer unde winter beide sint etc.“ (Lachmann, S. 99.)
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 102–103. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_1_074.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)