Aus dem Abgrund, über dem jetzt abendlicher Dunst lagerte, stiegen einzelne große Vögel auf. Sie hoben sich lautlos, hingen mit weitausgestreckten Schwingen einige Augenblicke in der Luft und tauchten dann wieder unter in das Gewirr der Äste und Lianen. Und so wie die dunklen Vögel aus dem Abgrund, stiegen aus der Königin Herz bange Fragen empor, standen wie dräuende Schatten vor ihr und versanken dann in der Tiefe, um andere erstehen zu lassen.
Den Zweifel hatte die Königin bisher nicht gekannt, denn es war ihr von klein auf gelehrt worden, sich vom Zweifel als von etwas Verderbenbringendem abzuwenden; es war ihr nie gesagt worden, daß es stets der Zweifel gewesen ist, der zu fortschreitender Erkenntnis geführt hat. Nun stand er aber unabweislich vor ihr und war der Führer all der sie bedrängenden Fragen. Und vor allen anderen stand da die eine: Was sie als von Gott gegebene Pflicht und Mission angesehen, würde es nicht vielleicht dereinst nur als selbstgewähltes Abenteuer gelten? -
Für die Alltagstaten der Kleinen gibt es ein Gut und Böse; aber die Unternehmungen der Größten der Erde bleiben namenlos, bis Erfolg oder Mißerfolg über sie entschieden. Dann werden sie je nach ihrem Ausgang gepriesen oder verdammt. Große dürfen nicht
Elisabeth von Heyking: Weberin Schuld. G. Grote’sche Verlagsbuchhandlung, Berlin 1921, Seite 93. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Weberin_Schuld_Heyking_Elisabeth_von.djvu/101&oldid=- (Version vom 31.7.2018)