In diesem Augenblick aber fuhr ein Windstoß mit weithin hallender Klage durch die schwüle, träge Luft und schüttelte rauschend die Zweige der alten Stämme - und von den Mangobäumen fielen, einem Regen gleich, die kleinen Blüten auf die Königin herab. Da entsann sie sich der Sage von Tuspa und Malintzin, und sie glaubte wieder die Worte zu hören: »Wenn zwei unter blühenden Mangobäumen weilen, wird, der den andern zuerst geküßt, auch vor ihm in das Todesreich schreiten.« - Es erfaßte sie plötzlich eine namenlose Angst; sie wollte aufspringen, dem König nacheilen, ihn festhalten, ihn rufen und sie vermochte doch nicht sich zu rühren, nicht die Lippen zu bewegen.
Als der Wind nun durch die Zweige rauschte und die Blüten auf sie herabstreute, war es, als wehe er mit ihnen der Königin neue Gedanken zu, die sie früher nie gedacht. Sie fühlte sich beklommen von dem, was sich auf sie herabsenkte. Mit der Hand strich sie über ihr Gewand, um die vielen Blümchen wegzustreifen, aber immer neue rieselten auf sie herab, bis sie es schließlich aufgab und regungslos sitzen blieb in dem duftenden Regen. Und mit den Gedanken ging es wie mit den Blumen; sie suchte gegen sie anzukämpfen, aber sie ließen sich nicht fortscheuchen die Königin mußte auch ihre Flut über sich ergehen lassen.
Elisabeth von Heyking: Weberin Schuld. G. Grote’sche Verlagsbuchhandlung, Berlin 1921, Seite 92. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Weberin_Schuld_Heyking_Elisabeth_von.djvu/100&oldid=- (Version vom 31.7.2018)