Ssofja Petrowna wandte ihr erhitztes Gesicht dem Damm zu. Zuerst kroch langsam die Lokomotive heran, dann zeigten sich die Waggons. Das war nicht, wie Frau Lubjanzew geglaubt hatte, der Vorortzug, sondern ein Güterzug. In langer Reihe, wie die Tage des Menschenlebens, zogen auf dem weißen Grund der Kirche die Waggons vorüber, und es schien, als wollten sie kein Ende nehmen!
Endlich aber war der Zug vorbei und der letzte Wagen mit den Laternen und Kondukteuren verschwand hinter den Bäumen. Ssofja Petrowna wandte sich schroff und ging, ohne Iljin anzusehen, schnell den Waldweg zurück. Sie beherrschte sich wieder. Rot vor Scham und nicht von Iljin beleidigt, nein durch ihre eigene Kleinmütigkeit, ihre eigene Schamlosigkeit, mit der sie, eine moralisch saubere Frau, es einem Fremden erlaubt hatte, ihre Knie zu umfassen, dachte sie jetzt nur daran, möglichst schnell zu ihrer Villa, zu ihrer Familie heimzukehren. Der Advokat konnte ihr kaum folgen. Als der Waldweg nach rechts einbog, kehrte sie sich so rasch nach ihm um, daß sie nur den Staub an seinen Knien sah, und winkte ihm mit der Hand, er solle sie verlassen.
Zu Hause angekommen, stand Ssofja Petrowna einige Minuten regungslos in ihrem Zimmer, bald den Tisch, bald das Fenster anstarrend…
„Ein gemeines Frauenzimmer!“ schalt sie sich selbst. – „Ein gemeines…“
Wie zum Trotz entsann sie sich aller Einzelheiten, ohne sich etwas zu verbergen, daß sie zwar alle diese Tage gegen IIjins Hofmacherei gewesen sei, daß sie sich aber doch zu einer Auseinandersetzung mit ihm hingezogen fühlte; und nicht nur das: als er zu ihren Füßen lag, da empfand sie einen ungewöhnlichen Genuß. Sie entsann sich alles dessen, ohne
Anton Pawlowitsch Tschechow: Von Frauen und Kindern. Musarion, München 1920, Seite 109. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Von_Frauen_und_Kindern_(Tschechow).djvu/109&oldid=- (Version vom 31.7.2018)